Vortrag Christain Maier
Warum Paul Parin am liebsten Hacker geworden wäre?
Christian Maier, Bonn.
„Nicht der Jäger ißt das Fleisch“, so sagt man in Bébou, bei den im Regenwald der östlichen Elfenbeinküste lebenden Agni, zu denen Paul Parin 1966 reiste – die zweite Forschung in Afrika, die Paul zusammen mit seiner Frau Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgenthaler durchführte. Nicht bitteren Neid noch traurigen Verzicht drücke dieses Sprichwort aus, schreibt Paul Parin, sondern man zitiere es, wenn man froh sei, „aus Verpflichtungen entlassen zu sein, wenn man aus der Sache ist“, denn wer bei den Agni auf die Jagd geht, der tut dies im Auftrag eines Chefs oder der Sippe, und der Jäger muss die Beute gemäß seinen sozialen Verpflichtungen verteilen (FdN, S. 549). Paul Parin war ein passionierter Jäger, was auch jeder weiß, der seine Erzählungen kennt, wo das Thema der Jagd immer wieder durchgespielt wird, bis hin im Erzählband „Die Leidenschaft des Jägers“, Erzählungen, in denen die Jagd mit ihren Ritualen als Metapher menschlicher Leidenschaften auftritt. Sich aus den Verpflichtungen einer sozialen Klasse oder Gruppe herauszuhalten oder diese, nach Erfüllung der ihm übertragenen Aufgabe, wieder los zu werden, war eine Tendenz von Paul Parin, eine Tendenz so stark, dass man sie der Reihe grundlegender Bedürfnisse zuordnen kann, weil sie auch mit seinen Vorstellungen nicht nur von Freiheit und Selbstbestimmung sondern auch von Toleranz übereinstimmte. Schließlich war diese Neigung so stark, weil er, hatte er sich für eine Idee oder eine 1 Unternehmung entschieden, diese energisch und beharrlich zugleich unterstützte: so ging er als junger Mann zu Titos Partisanen angeschlossen, um gegen die Faschisten zu kämpfen, zusammen mit Goldy, die, zwei Jahre älter als er, schon im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte; auch als Psychoanalytiker für seine Analysanden, was ihm selbst erst auffiel nach dem Januar 1990, nachdem er seine Praxis aufgegeben hatte und es ihm in den Wochen danach war, als wäre eine große Schwere von ihm genommen worden: „Das kommt wohl vom Gefühl der Verantwortung für meine Patienten, eine Verantwortung, die ich jetzt nicht mehr habe, die ich aber während meiner langen Praxisjahre nie so gespürt habe.“ „Nicht der Jäger ißt das Fleisch“ – so versteht Paul Parin auch seine Feldforschung in Afrika, die Ethnopsychoanalyse und die mittels dieser Methode gefundenen Ergebnisse. „Als Ethnopsychologen“, so schreibt er, „legen wir die Beute – unsere Methode und einige Ergebnisse – vor und essen sie nicht; wir müssen nicht sagen, ob sie genießbar ist und ob man davon satt werden kann“ (FdN, S. 549). Der Dorfchef von M’Basso, Tanofram Brou Koffi, meint die fremden Ethnologen verstanden zu haben: „Sie wollen mehr kennenlernen, darum sind Sie hergekommen. Wenn Sie zurückkehren, sind Sie klüger als die anderen und haben Vorteile davon. Das ist genau wie bei uns“ (FdN, S. 551f.). Damit überträgt Brou Koffi auf die Weißen die Motive eines Agnimannes: man könnte mit den erworbenen Kenntnissen viel Geld verdienen und dieses einsetzen, um soziales Prestige zu erwerben. Hätte der Dorfchef jedoch die vom Idealselbst Paul Parins getragene Motivierung tatsächlich verstanden, hätte er es aus der Sicht eines Agni etwa so formuliert: „Ich verstehe. Das Forschen und Wissen ist für Sie das gleiche, wie wenn wir eine einmalig schöne, gestickte Toga heimbringen. Es ist uns gleichgültig, ob man uns beneidet. Denn das Tragen des Kleidungsstücks ist für unser Selbstgefühl so wichtig, dass wir bereit 2 wären, eine mühevolle und kostspielige Reise zu unternehmen, um es zu erwerben“ (FdN, S. 552). Aber Paul Parin ging es um mehr als um eine besondere Toga im Kreise der Psychoanalytiker: die tiefere Motivation rührte von dem Wunsch her, das Eigene besser zu verstehen, womit gerade die gesellschaftlichen Bedingungen der eigenen Kultur gemeint waren. Ethnopsychoanalyse hieß für ihn, „das Eigene mit dem Blick des Fremden betrachten“, ein Ausdruck von Goldy Parin-Matthèy, den sie gerne zitierte, gerade dann, wenn ein junger Psychoanalytiker, sich in klinischen Betrachtungen verlor. Das Studium von Einzelpersonen fremder Völker in deren Kultur war und ist zwar das Instrument der Ethnopsychoanalyse, jedoch nicht ihr Ziel, sondern nur der erste große Schritt hin auf ihr eigentliches Ziel, das darin besteht, das hochkomplexe, wechselseitige Zusammenwirken des sozialen Gefüges und den darin lebenden Individuen der eigenen Gesellschaft besser zu verstehen. Paul Parin begründet diese Methode wie folgt: „Der anderen Schwierigkeit, unserer Unfähigkeit, die soziale Realität richtig zu sehen, die man Entfremdung nennt, begegnet die Ethnopsychoanalyse dadurch, dass sie Distanz nimmt. Sie macht aus der Not der Verschiedenheit der Völker eine Tugend, sieht sie als fertig aufgestelltes natürliches Experiment an. Das Gesellschaftsgefüge der Agni erscheint uns übersichtlicher als das unsere, weil es kleiner und vielleicht weniger kompliziert gebaut ist, und weil wir es gleichsam von außen studieren können. Doch ist die Methode, ein fremdes Volk zu untersuchen, um die eigenen Probleme zu verstehen, tiefer begründet. Das neugeborene Kind ist ein Lebewesen, das überaus plastisch und nicht einer spezifischen Umwelt zugeordnet ist. Es muss erst in einer langen Kindheit in Wechselwirkung mit der Umwelt spezialisiert werden (Sozialisation). Die Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Gruppen (Klasse, Stamm oder Volk) 3 sind so groß, dass man sie mit den Unterschieden zwischen den Tierarten verglichen hat und sagen kann, dass sich die Menschheit in zahlreiche Pseudo-Spezies (Erikson 1968) scheidet. Die Distanz zu den Agni ist groß genug, um den Splitter in ihrem Auge zu sehen, wenn wir den Balken im eigenen nicht mehr bemerken“ (FdN, S. 551). Ethnopsychoanalyse war für Paul Parin psychoanalytische Sozialpsychologie, aber das war Psychoanalyse für ihn im Prinyip von jeher: „Was ist Psychoanalyse anderes als psychoanalytische Sozialpsychologie, wenn man ausgeht von der ersten Beziehung des Neugeborenen und dessen Interaktionen mit der Mutter ?“, war einmal sein Kommentar, als ein renommierter Psychoanalytiker die Bedeutung der sozialen Dimension als zu vernachlässigend darstellte. Die „durchschnittlich zu erwartende Umwelt“, sei, so Paul Parin weiter, ein bewusster Kunstgriff Heinz Hartmanns gewesen, mit der Absicht, die Verhältnisse und Vorgänge im Ich zu beschreiben, und Hartmann habe sich hinsichtlich der Problematik und der dieser seiner Annahme innewohnenden Begrenzheit für die psychoanalytische Forschung keiner Täuschung hingegeben. Ethnopsychoanalyse war für Paul Parin also keine Nebendisziplin der Psychoanalyse, nicht ein Spezialgebiet, vergleichbar einer sich auf die Erforschung fremder, traditionsgeleiteter Kulturen spezialisiert sich habende Sonderform einer psychoanalytischen Sozialpsychologie, sondern Ethnopsychoanalyse war für ihn die um die gesellschaftlich-kulturell Dimension erweiterte Psychoanalyse, letztlich damit die Vollständigkeit anstrebende Psychoanalyse. Über das ethnopsychoanalytische Werk Paul Parins heißt folglich über die Psychoanalyse von Paul Parin sprechen, über sein gesamtes psychoanalytisches Werk und, nähme man es genau, zugleich über 4 einen nicht geringen Teil seines erzählerischen Werks. Seine zahlreichen Vorträge, Aufsätze und Kommentare zu den Konflikten in Ex-Jugoslawien, deren Voraussetzungen und Folgen, einbezogen den Reaktionen und Verstrickungen der westlichen Welt, alle diese in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten geschriebenen Texte sind angewandte Ethnopsychoanalyse. Der Untertitel meines Beitrages, „Sein Leben als Ethnopsychoanalytiker“, der mir erst spät bekannt wurde, mit dem mir zugesandten Flyer, eine Vorgabe, die mich zunächst erschreckte, würde damit eigentlich übersetzt lauten „Sein Leben mit seiner Psychoanalyse“, eine Aufgabe, die mich überforderte, weshalb ich über sein ethnopsychoanalytisches Werk spreche. Bereits seine erste psychoanalytische Veröffentlichung betritt dieses Terrain, der 1948 im Schweizerischen Archiv für Neurologie und Psychiatrie erschienene Aufsatz „Die Kriegsneurose der Jugoslawen“ (Parin 1948), geschrieben vom damals 32jährigen Assistenzarzt und Kandidaten der Psychoanalyse, die erste seiner Veröffentlichungen, von der mir Paul Parin anlässlich einer Supervisionssitzung einen Sonderdruck gab, ich damals etwa in dem Alter, in dem Paul diese Arbeit geschrieben hatte, wohl ein Identifikationsangebot, doch auch Ausdruck dafür, wie wichtig ihm diese Arbeit nahezu vier Jahrzehnte später immer noch war. Parin beschrieb darin eine unter den Partisanen und der mit ihnen sympathisierenden Bevölkerung nach Abschluss der Kampfhandlungen auftretende psychische Auffälligkeit, bei Männern wie Frauen und sogar bei Kindern und Jugendlichen, eine überaus häufig vorkommende anfallsartige charakteristische Störung, beginnend mit einer Bewusstseinseintrübung, begleitet von einem wilden Umsichschlagen und einer danach einsetzenden Sturmangriffsimulation, diese ganze komplexe Symptomatik eingefasst von einer kompletten Amnesie, eine dem hysterischen Formkreis zuzurechnende Kriegsneurose, 5 die Paul Parin mit dem drakonisch gesicherten Sexualverbot bei den Partisanen in Verbindung bringt, auch mit einem an die Gruppe gebundenen „sekundären Überich“, ein Sexualverbot, das bei den Partisanen aller jugoslawischen Völker galt, mit Ausnahme der Slowenen, die dann prompt von diesem hysterischen Anfallsleiden verschont blieben. Anklänge an die später in Afrika gefundene Ethnopsychoanalyse sind in dieser frühen Arbeit des Kandidaten der Psychoanalyse unübersehbar. Sechs Jahre später kam dann die erste große afrikanische Reise von Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy, Fritz Morgenthaler, und weitere zwei Jahre später, 1956, folgte die erste beachtete, dann auch ins Französische übersetzte ethnopsychoanalytische Publikation von Paul Parin und Fritz Morgenthaler, „Psychoanalytischer Deutungsversuch der Charakterzüge primitiver Afrikaner“ (Parin und Morgenthaler 1956), eine Arbeit, der man noch den Geist der damaligen Psychoanalyse, deren Wertungen und Vorurteile da und dort anmerkt, eine Arbeit aber auch, von der aus die gemeinsame Entwicklung der Züricher Ethnopsychoanalytiker ihren Ausgang nahm, hin zu einem immer konsequenteren, exquisit selbständigen Denken, gerichtet auch gegen den Strom der gängigen Psychoanalyse, der es gefallen hätte, wenn der fremde Blick seine Erfüllung in der Betrachtung von Afrikanern oder anderem fremden Volk gefunden hätte, damit zwar geistig anregengende Nahrung, dabei aber auch nur ungefährlichen Stoff geliefert hätte. Doch damit gab sich der forschende Blick des in die Fremde reisenden Psychoanalytikers Parin nicht zufrieden, sondern er richtete sich fortwährend auf die eigenen gesellschaftlichen Bedingungen, damit auch auf die Bedingungen der Psychoanalyse, womit auch deren Theorie und Praxis ständig hinterfragt wurden. Später, gegen Ende seines Lebens, wird Paul Parin sich dann als einen „moralischen Anarchisten“ bezeichnen, und in einem Vortrag an der Universität Konstanz, meines 6 Wissens nie publiziert, gehalten am 14.5.1996, sprach er über den unvermeidlichen Missbrauch von technischem Fortschritt und bekennt: „Am liebsten wär`ich Hacker“ (Parin 1996), ein auf den ersten Blick merkwürdig anmutendes Bekenntnis, dessen Hintergründe im folgenden vielleicht nachvollziehbar werden – zumindest ein Stück weit. Für ihre psychoanalytische Methode verwendeten Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy die Bezeichnung Ethnopsychoanalyse, die sie von Georges Devereux übernahmen. Paul Parin, der mit Devereux persönlich bekannt war, zeigte sich von dessen Schrift Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften tief beeindruckt, ging davon doch das Signal aus, der geisteswissenschaftliche Forscher müsse sich selbst beobachten und sein Handeln reflektieren, wenn Parin auch, was das psychoanalytische Denken und die Forschungsmethoden von Devereux anging, nicht überzeugt war, weil, wie Paul sich ausdrückte, Devereux`s wissenschaftliche Phantasie sich auf seine Forschungsergebnisse immer wieder einmal ungünstig auswirkte (Parin 1999), etwa, wenn Devereux seine in Indochina und bei den Mohave-Indianern erhobenen Forschungsresultate, die er vor jeder Kenntnis der Psychoanalyse und natürlich auch vor dem Beginn der eigenen Analyse bei Geza Roheim gesammelt hatte, nachträglich aufbereitete, wenn er seine später erworbenen psychoanalytischen Kenntnisse schablonenhaft auf diese Daten anwandte. Die ethnopsychoanalytische Methode von Georges Devereux ähnelte doch sehr dem psychoanalytischen Forschungsvorgehen seines Analytikers Geza Roheim, der 1929 die erste ethnologisch-psychoanalytische Feldforschung durchgeführt hatte, um die von dem Anthropologen Bronislaw Malinowski in Frage gestellte universelle 7 Gültigkeit des von Freud beschriebenen Ödipuskomplexes zu belegen. Malinowski hatte 1924 in seinem Aufsatz „Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex“ geschrieben, dass der Ödipuskomplex von der familiären Struktur geformt werde und deshalb nicht bei allen Völkern konstant dieselbe Struktur aufweise und dass es bei den Trobriandern in Nordwest-Melanesien einen spezifischen matrilinearen Komplex gebe, in Gestalt des Wunsches, die Schwester zu heiraten und den Bruder der Mutter zu töten (Malinowski 1924). Mit dem Ziel, Malinowski zu widerlegen, reiste Geza Roheim 1929 nach Melanesien, gleichsam von Freud beauftragt, eine von Marie Bonaparte finanzierte Reise in die Südsee, die ihn auf die Insel Normanby führte, womit er merkwürdigerweise die Trobriandinseln um ca. 130 Kilometern verfehlte, wo er aber nichtsdestotrotz den Ödipuskomplex fand, mit einer psychoanalytischen Methode, die mit psychoanalytischen Schablonen hantierte. Bronislaw Malinowski, auf den die Methode der „teilnehmenden Beobachtung“ zurückgeht, dieser erste große Feldforscher war der Psychoanalyse gegenüber gar nicht ablehnend eingestellt gewesen, sondern hatte eine sie weiter führende Vision, die auf eine psychoanalytische Sozialpsychologie hinzielte: „Die Hauptaufgabe der psychoanalytischen Soziologie ist also, die Grenzen dieser Variationen (gemeint sind die Variationen des ödipalen Konflikts) zu untersuchen, zu formulieren, wie die Abarten des Kernkomplexes den Abarten in der Verfassung der Familie entsprechen“ (Malinowski 1924). Malinowskis funktionelle Anthropologie war die einzige ethnologische Forschungsmethode, die Paul Parin akzeptierte, diesen wissenschaftlichen Standpunkt Malinowskis, den Paul Parin 1963 in einer Rezension von Malinowskis Sex, Culture and Myth so beschrieb, „dass jede Erscheinung des menschlichen Zusammenlebens, jedes banale oder noch so sonderbare und phantastische Phänomen in irgendeinem 8 Gesellschaftsgefüge determiniert“ sei (Parin 1963, S. 920), und Paul Parin schrieb über den von ihm geschätzten großen Humanisten: „Wir können von ihm lernen, was Menschenkunde ist, oder vielmehr wie sie sein soll, wie wir die Gesetzmäßigkeiten der Kulturentwicklung methodisch richtig erforschen können, um aus dieser Kenntnis gültige Anweisungen für die wichtigsten Probleme des menschlichen Zusammenlebens abzuleiten“ (ebda.). Ein knappes Jahrzehnt nach dieser Rezension erscheint eine Arbeit von Paul Parin, in dem er die von Malinowski 1924 formulierte wissenschaftliche Fragestellung ethnopsychoanalytisch beantwortet, in dem Aufsatz „Der Ausgang des ödipalen Konflikts in drei verschiedenen Kulturen“ (Parin 1972), ein Titel, der ein programmatisch abgewandeltes Zitat der dafür grundlegenden Arbeit von Freud ist, auf dessen Schrift „Der Untergang des Ödipuskomplexes“ (Freud 1924), ein Aufsatz, auf dessen Kernaussage Paul Parin verweist, wenn er schreibt, dass dieser Konflikt zuerst im Rahmen der abendländischen Welt formuliert wurde, um den folgenden Entwicklungsschritt zu beschreiben: Das Kind muss die ausschließliche Beziehung zu einer Pflegeperson, meist die Mutter, aufgeben und sich mit weiteren Personen seiner Umwelt auseinandersetzen, wofür in den Gesellschaften des Abendlands die einfachste Formulierung den Übergang von der Mutter-Kind-Dyade zur Triade bezeichnet. Während für die westlichen Gesellschaften diese Formulierung bekanntermaßen heiße, der Knabe wünsche, seine Mutter sexuell zu besitzen, weshalb er danach trachte, den Vater zu töten, jedoch die Vergeltung des Vaters, Kastration oder Tod, fürchte, ein Konflikt, der zum Untergang des Ödipuskomplexes führe, indem der Knabe die Autorität des Vaters verinnerliche, hinfort auf den Besitz der Mutter verzichte, womit das Überich aufgerichtet und das Inzestverbot etabliert sei, 9 während also all dies für die bürgerlichen Schichten der abendländischen Welt gelte, aber selbst dort nicht immer für alle sozialen Klassen, so habe sich für die Formulierung des ödipalen Konflikts für die Untersuchung von in Sozietäten mit von uns verschiedenen Familienordnungen und Erziehungspraktiken aufgewachsenen Menschen eine allgemeinere Fassung als notwendig erwiesen: „Knaben und Mädchen treten zwangsläufig in eine Entwicklungsphase (die sogenannte phallische Phase der Libidoentwicklung) ein, in der sich ihre libidinösen Wünsche ganz auf eine Person zentrieren, die sie bisher gepflegt hat (in der Regel die Mutter). Mit dieser bilden sie eine Dyade. Jetzt wird jede Person oder Gruppe von Personen, die Ansprüche auf die >Mutter< erhebt, als Störfaktor erlebt. Für das Kind ergibt sich ein Konflikt, der starke Affekte erregt. Diese zwingen es, sich in irgendeiner Weise mit der Einordnung in eine Triade abzufinden oder, anders gesagt, die objektbezogenen libidinösen zugunsten seiner egoistischen (narzisstischen) Interessen aufzugeben“ (Parin 1972, S. 196). Diese Interessen der Selbstbewahrung führen zum Ende des durch den ödipalen Konflikts erzwungenen Entwicklungsschritt dazu, dass das Kind am Ende dieses Prozesses ein sozialeres Wesen ist als es zu Beginn desselben war (ebda. S. 197). Mit dieser auf verschiedene Familienordnungen und soziale Gruppierungen anwendbaren Formulierung, die für sich allein schon genügend Zündstoff für eine grundlegende Diskussion eines der Kernthemen psychoanalytischer Erkenntnis und Theorie böte, wendet sich Paul Parin wieder dem Untergang des Ödipuskomplexes in der eigenen Ethnie zu. Wir lassen ihn am besten wieder selbst zu Wort kommen: „Dem Ausgang des ödipalen Konflikts kommt in der Sozialsphäre der Dogon, der Agni und in jener der abendländischen Völker eine große Bedeutung zu. Bei uns jedoch hat der Wunsch, die Mutter zu besitzen, eine besondere Färbung und die Auseinandersetzung mit dem Vater als Störfaktor der Dyade eine aggressive Tönung. 10 Schon das alleinige >Besitzen< der Mutter, als Ausdruck sexueller Wünsche, ist eine Folge der Erziehung des Kleinkindes zu Leistung und Reinlichkeit. Die ersten auf eine Person zentrierten Liebesgefühle zeigen einen anal-retentiven Beiklang: sie tragen bereits den Stempel der Produktionsverhältnisse der bürgerlichen Besitzwelt. Rivalitätsgefühle und Ängste treten auch bei den Dogon und bei den Agni auf, sobald die Dyade gestört wird. Aber der Wunsch, den Vater zu töten, ist typisch für europäische Kinder, deren Rivalität in den Kämpfen um die Trennung von der Mutter und um die Sauberkeitserziehung eine grausame Färbung erhalten hat“ (Parin 1972, S. 212). Weil Ethnopsychoanalyse eine Methode ist, „die den >Blick des Fremden< auf Phänomene des eigenen Gesellschaftsgefüges, der eigenen culture richtet“ (Parin 2001b, S. 11), ist die Psychoanalyse, wie sie sich in der eigenen Kultur entwickelt hat, selbst wieder Gegenstand der analytischen Betrachtung, mit dem Ergebnis, dass man an der Erkenntnis nicht vorbeikommt, wie wenig stabil, da eben auch sie von der gesellschaftlichen Ideologie abhängig, selbst Grundpfeiler unseres Theoriegebäudes sein können. Berücksichtigt man den Sachverhalt, dass die Psychoanalyse seelische Entwicklung durch innere und äußere Konflikt bestimmt sieht, deren Lösungen und Resultate in der seelischen Struktur der Individuen ihren Niederschlag finden, weshalb gilt, wie Paul Parin schreibt: „deshalb gibt es bei dieser Betrachtung keine konfliktfreie Gesellschaft, ebenso undenkbar wie konfliktfreie Menschen“ (Parin 1972, S. xxx). Letztlich gibt es keine konfliktfreie Sphäre, und auch die Theorie der Psychoanalyse und ihre Entwicklungen sind nicht unabhängig von den sozialen Konflikten, und auch schon deshalb verändert sich Psychoanalyse ständig, was nicht bedeutet, dass diese Veränderungen allein in Fortschrittskategorien zu denken wären. 11 Dass eine Psychoanalyse, die den in der Fremde geschärften Blick auf die eigene Gesellschaft richtet und dabei auch sich selbst zum Gegenstand der Beobachtung macht, auch zu neuen psychoanalytischen Konzepten führte, das in Theorie und Praxis, ist eigentlich kaum mehr als eine logische Konsequenz dieser Methode. Eines der Resultate waren die Anpassungsmechanismen, die Paul Parin erstmals 1977 in einer damals in der PSYCHE erschienenen Arbeit beschrieb, mit dem Titel „Das Ich und die Anpassungsmechanismen“, ein Titel, der wiederum zwei bedeutende psychoanalytische Werke zitierte: „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ von Anna Freud (1936) und „Ich-Psychologie und Anpassungsproblem“ von Heinz Hartmann (1939). Als Anpassungsmechanismen bezeichnet Paul Parin „im Ich des Erwachsenen mehr oder minder fest etablierte Mechanismen, die unbewusst, automatisch und immer gleich ablaufen, gerade so, wie es bei den Abwehrmechanismen beschrieben ist. Während sich diese jedoch im Ich etabliert haben, um unerwünschte oder störende Triebregungen, Wünsche oder Affekte abzuwehren, haben die… Anpassungsmechanismen den Zweck, mit eingreifenden Einflüssen der sozialen Umwelt fertig zu werden“ (Parin 1977, S. 78). Mit diesem Aufsatz setzt Paul Parin die Forschungen von Heinz Hartmann fort, der, wie die gesamte Strömung der Ichpsychologie, sich des Kunstgriffs der Annahme einer „durchschnittlich zu erwartenden Umwelt“ bediente, einer Festlegung der Umwelt als unveränderliche Größe, um die Erforschung des Ich zu verfeinern. Paul Parin kritisiert in seiner Arbeit, dass, nachdem die Ichpsychologie mit ihrer Forschung viel erreicht hatte, es die Psychoanalyse versäumt habe, diesen einst eingeführten Parameter wieder aufzuheben, weshalb die Anpassungsmechanismen des Ich so gut wie gar nicht untersucht worden seien, nicht zuletzt deshalb, weil viele Psychoanalytiker dem biologistischen Ansatz folgten, einem Ansatz, „der die Umwelt 12 als eine >naturgegebene< ansieht und das Individuum allein als ein veränderliches – eine Auffassung, die für die Gesellschaft als Umwelt nicht haltbar ist“ (Parin 1977, S. 79). Anpassungsmechanismen, so Parin, funktionieren automatisch und unbewusst – unbewusst deshalb, weil die Wahrnehmung des >beobachtenden Ich< defizient ist, eines Ich, „das es nötig hatte, sich so weit anzugleichen, bis es seine eigenen Interessen von denen der sozialen Umwelt nicht mehr unterscheiden konnte“ (ebda. S. 84). Ihre vorrangige Aufgabe ist es, einen relativ konfliktfreien Umgang mit bestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen zu ermöglichen, indem sie andere Ichapparate entlasten und es erleichtern, zu Triebbefriedigungen und narzisstischen Gratifikationen zu gelangen, welche die entsprechenden sozialen Institutionen anbieten (S. 85). Paul Parin stellt fest, dass Anpassungsmechanismen ein viel direkterer Ausdruck dessen sind, „dass die soziale Umwelt in die Ichstruktur eingreift: Sie werden zwar ebenfalls (wie die Abwehrmechanismen) bereits in der Kindheit angelegt, bleiben aber zeitlebens sozialen Kräften unterworfen“ (Parin 1977, S. 86). Drei Anpassungsmechanismen werden von Paul Parin detailliert beschrieben: es sind dies das „Gruppen-Ich“, das „Clangewissen“, diese zuerst bei afrikanischen Analysanden beobachteten Anpassungsmechanismen, die unverzichtbar sind in der Psychoanalyse gesellschaftlich-politischer Einwirkungen, sowohl bei Individuen und Gruppen, und, als dritter, die „Identifikation mit der Rolle“, ein Anpassungsmechanismus, ohne den, wie Paul Parin bekannte, er selbst in seiner praktischen Tätigkeit als Psychoanalytiker nicht mehr ausgekommen sei, ein Anpassungsmechanismus, auf dessen analytische Thematisierung er auch in den Supervisionen immer wieder großen Wert legte. Mit „Rolle“ in diesem ganz speziellen Zusammenhang meint Paul Parin soziale Rollen, die stets in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Institutionen oder Formierungen auftreten, die, 13 oftmals unbewusst für den Einzelnen wie für diese Institutionen, in einem irgendwie gearteten ideologischen Kontext ein Rollenverhalten vorgeben; nicht gemeint ist ideologisch nicht definiertes Sozialverhalten jeglicher Art, selbst wenn auch das in der funktionalistischen Soziologie ebenfalls Rolle genannt werden sollte, weil ein solches Verhalten den „Identifikation mit der Rolle“ genannten Anpassungsmechanismus nicht ermögliche. Paul Parin schreibt: „Die >Identifikation mit der Rolle< ist ein psychologisch zu beschreibender Vorgang, ein Schritt (unter anderen), durch den eine >objektive< zu einer >subjektiven< Rolle wird“ (S. 96). Und Paul Parin gibt folgendes Beispiel: „Ein homosexueller Mann hat ein bestimmtes soziales Verhalten. Er wählt männliche Sexualpartner. Damit ist noch nichts darüber gesagt, ob er sich der Ideologie der Institution „Homosexualität in der Industriegesellschaft“ entsprechend verhält. Tut er dies, frequentiert er die entsprechenden Treffpunkte, kleidet und benimmt er sich den ideologischen Erwartungen der Gesellschaft entsprechend, so verhält er sich wohl mit der Rolle des Homosexuellen identifiziert. Tut er dies – ein rein psychologischer Vorgang -, ist es zu einer Änderung in seinem Ich gekommen, die sich psychologisch beschreiben und psychoanalytisch aufklären lässt“ (Parin 1977, S. 97). Dass Paul Parin hier als eines seiner Beispiele das eines homosexuellen Mannes wählt, hat verschiedene Gründe. Ein wesentlicher Gesichtspunkt dabei ist, dass ein junger Homosexueller, nach dem „coming out“ in der Adoleszenz, eine neue eigene Identität ausbilden muss, ein Entwicklungsschritt, der mit der Ablösung von der Familie und dem Eintritt in ein erweitertes Gesellschaftsgefüge eine große Belastung darstellt, in einer Gesellschaft mit relativer Toleranz, anders ausgedrückt: mit meist im Verborgenen laufender sozialer Diskriminierung. Weil die Identifikation mit der 14 Rolle ein Hauptinstrument der Angleichung des Individuums an gesellschaftliche Forderungen und Zwänge darstellt, ist die analytische Bearbeitung dieses Anpassungsmechanismus ein „unersetzliches Instrument der Emanzipation“, eben weil der Mensch „nicht Meister im eigenen Haus ist, deshalb muss die Analyse „ihm nicht nur bewusst machen, welchen Kräften aus dem Verdrängten er unterliegt, sondern auch, welche Gewalten seiner Umwelt automatisch über ihn herrschen“ (Parin 1977, S. 98). In therapeutischen Analysen mit jüngeren Männern, über viele Jahre seiner Praxistätigkeit, hatte Paul Parin die Beobachtung gemacht, dass für Angehörige zweier Subkulturen, die der assimilierten Juden und die der männlichen Homosexuellen, (Parin 1985), „sich in der Analyse eine tiefreichende, vielfältige psychische Ähnlichkeit ergab1“ (Parin 1985, S. 124). Angehörige beider Subkulturen traf in der Schweiz eine ähnliche, vor allem über Symbole vermittelte Diskriminierung, und Paul Parin hält fest: „Die verschiedensten männlichen Personen, die einer bestimmten Form der Diskriminierung ausgesetzt sind, können die gleichen psychologischen Besonderheiten entwickeln“ (ebda. S. 124). Die Ähnlichkeiten dieser beiden Gruppen manifestierten sich in der Übertragung, in der Betonung der Frage, ob und inwieweit der Analytiker von ihnen verschieden oder ihnen vielleicht doch gleich sei, einer Akzentuierung dieser Fragestellung, bedingt „durch die gleichartige Diskriminierung bzw. durch die nur relative Toleranz, der ihre >Andersartigkeit< begegnet“ (ebda. S. 127), gerade deshalb, weil den Angehörigen dieser beiden Gruppen, indem das „Bild des Fremden“ dem Individuum „den Stempel der Unterdrückung aufdrückt“, in der sogenannten Ablösungsphase der Adoleszenz die das notwendige Wiederauftanken gewährleistende zeitweilige Rückkehr in die emotionale Geborgenheit der Familie verunmöglicht wird. Mit der Adoleszenz 1 kursiv im Original 15 einsetzende Identitätsprobleme männlicher Homosexueller sind, so folgert Paul Parin, nicht in erster Linie das Resultat frühkindlicher Defekte in der Ausbildung der psychosexuellen Identität, sondern wie der Vergleich mit jüdischen jungen Männern zeige, weit eher eine Folge der traumatisch erlebten Adoleszenz unter dem Eindruck sozialer Diskriminierung, was, wegen der durch die diskriminierenden Zurückweisungen bedingten regressiven Bewegungen, fälschlicherweise den Eindruck einer frühkindlichen Störung des Selbsterlebens erwecken könne. Für Paul Parin war die Freudsche Psychoanalyse, und damit ihre auf die Gesellschaft ausgeweitete Entwicklung, die Ethnopsychoanalyse, zuallererst Konfliktpsychologie. Wir wissen: dem Ich fällt die Aufgabe zu, die Interessen des Es wahrzunehmen und die Anforderungen der Realität zu ihrem Recht kommen zu lassen, wobei das Über- Ich als Träger der Regeln und Gesetze und somit als Vertreter der Eltern, der Traditionen, letztlich der Gesellschaft im psychischen Apparat wirkt. Verdrängt wird, was dem Ich unter dem Einfluss des Überichs unerträglich wird, wobei, wie Freud (1912)2 es ausdrückt, jede innere Verdrängungsschranke der historische Erfolg eines äußeren Hindernisses ist, womit die Verinnerlichung der Widerstände die Geschichte der Menschheit repräsentiert, niedergelegt in den ihr gegenwärtig eigenen Verdrängungsneigungen. Konflikte zwischen dem Ich und dem Überich sind damit letztlich das Resultat äußerer Widerstände, die sich den Interessen des Individuums infolge der Anforderungen in der sozialen Umwelt entgegenstemmen. Aus der Sicht der Ethnopsychoanalyse, mit dem Erkennen des Anpassungsmechanismus der Identifikation mit der Rolle, werden die Gegebenheiten um den innerpsychischen Konflikt noch komplexer: weil nämlich gesellschaftliche Widersprüche in alle 2 Freud (1912): „Every internal repression barrier is the historical outcome of an external obstacle. Therefore: internalization of resistances [represents] the history of the human race as deposited in its present innate tendencies to repression.”. 16 angebotenen >Rollenstereotypien< aufgenommen wurden – ein >Schüler< beispielsweise ist gleichzeitig >braver Empfänger< autoritär vermittelten Wissens und >kühner Beauftragter< seiner unwissenden Eltern – und ein Teil des Ich sich selbst mit der Rolle identifiziert hat, ist zu den Konflikten zwischen Ich und Außenwelt und zwischen Ich und Überich ein weitere Konfliktquelle hinzugekommen – die durch die Rollenrepräsentanz ins Ich implantierten Widersprüche. Ich lasse hier besser Paul Parin zu Wort kommen: „Neben den Konflikten zwischen dem Subjekt und seiner Umwelt werden im Ich weitere Widersprüche auffindbar, die aus den gesellschaftlichen Verhältnissen in die Rollen-Ideologien eingegangen sind. Der Ort ist gefunden, an dem es sich erweisen muss, dass nicht nur das Individuum am Unbehagen in der Kultur, letzten Endes an der Triebeinschränkung zu leiden hat, sondern dass die Widersprüche und Konflikte, die unsere Kultur kennzeichnen, das Subjekt selbst verändert haben…Der Widerspruch in der Gesellschaft ist zum Widerspruch im Subjekt geworden. Das Ich erscheint nun nicht mehr allein als Widerpart der gesellschaftlichen Umwelt; es trägt auch die gesellschaftlichen Widersprüche als Rollen-Identifikationen in sich.“ (Parin 1978, S. 120). In einem Grußwort an den Grazer Arbeitskreis für Psychoanalyse zum Symposium „Der fremde Blick“ im Oktober 1998 stellt Paul Parin sich die Frage, ob die Psychoanalyse der dort Anwesenden noch die gleiche sei, die er gekannt hat, und er beantwortet sie selbst mit „da habe ich Zweifel“ (Parin 1999b, S. 30). Neue Entwicklungen, andere Theorien mit den sie bestimmenden veränderten Blickwinkeln, habe eine neue, eine andere psychoanalytische Kultur geschaffen. Paul Parin war sich dieser Entwicklungen bewusst, ja er kannte sie alle, aber er blieb ihnen gegenüber skeptisch, was ihren möglichen Beitrag zu dem grundlegenden Anliegen 17 der Ethnopsychoanalyse anging. Jacques Lacan habe das „obligat konflikthafte Seelenleben“ der Lehre Freuds aufgegeben und durch eine Theorie von einer Beschädigung der menschlichen Fähigkeit zu symbolisieren ersetzt, eine Fähigkeit, die Psychoanalytiker „kraft ihres Wissens um das Unbewusste wiederherzustellen, zu reparieren hätten“, wie Paul Parin mit Sarkasmus feststellte. Dass sie den Konflikten nicht die adäquate Berücksichtigung zukommen ließe, war auch seine Kritik an der Selbstpsychologie. Zwar habe Heinz Kohut mit seinem Schema von der vertikalen und horizontalen Spaltung vermutlich Zutreffendes beschrieben, meinte Paul Parin, doch zeigte er sich ansonsten gegenüber Kohuts Konzepten zumindest zurückhaltend, zumal er dessen Ergebnisse allein schon deshalb skeptisch betrachtete, weil Kohut, so wusste Paul anzugeben, alle wesentlichen Erkenntnisse aus Analysen und Re-Analysen mit Lehranalysanden geschöpft habe, eine Skepsis, die auf Pauls Überzeugung beruhte, dass eine Lehranalyse nur im allergünstigsten Fall geeignet sei, ähnlich gute Erfolge zu erbringen wie eine therapeutische Analyse. Mit seiner Hauptkritik hielt Paul Parin auch gegenüber Heinz Kohut nicht zurück, wenn der, was häufiger vorkam, mit seiner Frau nach Graubünden in Urlaub fuhr und vorher, aus den Staaten kommend, Station in Zürich machte, um Paul Parin, Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy zu besuchen. Die Hauptkritik hatte den folgenden Inhalt: Ab den Mitsiebzigerjahren wurde häufig darauf hingewiesen, dass die von Kohut beschriebenen >narzisstischen< Persönlichkeitsstörungen in den westlichen Industriestaaten vermehrt aufträten. Im Unterschied zu anderen Psychoanalytikern ging Paul Parin davon aus, dass dieser Sachverhalt weniger auf Änderungen der Familienstruktur oder der frühkindlichen Entwicklung zurückzuführen sei, sondern auf „ein Versagen der Anpassung in einer entfremdeten sozialen Lage“ (Parin 1977, S. 108). Das Ich habe zwar 18 Anpassungsmechanismen ausgebildet, so schrieb Paul Parin, wodurch einerseits die Autonomie des Ich gestärkt werde, andererseits aber auch dessen Abhängigkeit von der Umwelt zunehme, was in der modernen Industriegesellschaft dazu führe, dass infolge von wirtschaftlichen Entwicklungen und Krisen es zu häufigen und nicht selten einander widersprechenden Rollenangeboten komme, mit denen sich das Ich zu identifizieren habe, mit dem Resultat, dass das rollenidentifizierte Ich objektbezogene Befriedigungen und Konflikte durch narzisstische Gratifikationen und Konflikte ersetze. Ich zitiere Paul Parin: „Das Gleichgewicht zwischen den narzisstischen… Bedürfnissen und den objektbezogenen ist gestört; es kommt zu einer Verschiebung zugunsten der narzisstischen. Die fortschreitende Vermarktung des Individuums zwingt das Ich, den Lustgewinn objektaler Wunschbefriedigung gegen narzisstische Prämien umzutauschen, die mit den gebotenen Rollenidentifikationen eher vereinbar sind“ (Parin 1977, S. 109). Diese psychodynamischen Gegebenheiten sah Paul Parin als prinzipiell reversible Vorgänge an, die ihm in Analysen dann als erwiesen galten, wenn, wie so häufig, in der Übertragungsbeziehung die Verbesserung des Selbstgefühls automatische Rollenidentifikationen überflüssig macht und verloren geglaubte objektbezogene Besetzungen wieder in den Vordergrund treten. Hier, nun in der analytischen Praxis angekommen, stellt sich die Frage, ob sich aus den Erkenntnissen der Ethnopsychoanalyse, dieser Bezeichnung seiner Psychoanalyse, die Paul Parin gleichbedeutend mit >vergleichende Psychoanalyse< verwendete (Parin 1976, S. 56), eine Theorie psychoanalytischer Praxis ableiten lässt? Wenn Paul Parin den aktiven Verzicht des Psychoanalytikers auf emotionale Geborgenheit als unabdingbare Voraussetzung der Psychoanalyse erkennt, damit auch dessen Zugehörigkeit in eine tragende Gruppe oder dies auch für die Übernahme einer 19 Halt gebenden Idee als gültig ansieht, weil nämlich der Psychoanalytiker nur unter diesen Voraussetzungen seiner wichtigsten Aufgabe, „jede psychische Äußerung in Frage zu stellen“ (Parin 1985/1986, S. 17), gerecht werden kann, wenn also Paul Parin fordert, der Psychoanalytiker müsse sich jeglicher Hingabe an eine kulturelle Illusion enthalten, wenn dies also das oberste Gebot darstellte, dann lässt sich daraus folgern, dass psychoanalytische Praxis am ehesten durch Negation zu beschreiben sei, wie es auch ein anderer großer Unbequemer postulierte, Bion mit seinem „no memory, no desire“. Die Begründung dafür lässt sich auch im ethnopsychoanalytischen Werk Paul Parins finden: Der Psychoanalytiker kann den inneren Konflikten seiner Patienten, diesen Widersprüchen, die das Resultat der Verinnerlichung von gesellschaftlichen Regeln und Idealen sind, mit seiner Methode nur gerecht werden, wenn er alle gesellschaftlichen Vorgaben und die diese begründenden kulturellen Illusionen auf den Prüfstand stellt, weil er, um das Unbewusste erforschen zu können, „die unbewusste identifikatorische Gleichschaltung mit irgendeiner Gemeinschaft, mit Kirche, Staat, Partei und auch mit der internationalen Gemeinde der Analytiker kritisch in Frage zu stellen und wenn nötig aufzugeben“ habe (Parin 1985/1986, S. 16). Diese Grundhaltung, jederzeit alles in Frage zu stellen und gegebenenfalls der Negation zu überantworten, ist die einzig sichere, positiv zu formulierende Leitidee der Psychoanalyse, und sie ist es auch, die den Analytiker notwendigerweise in Widerspruch mit den Herrschaftsverhältnissen bringt. „Flectere si nequeo superos, acheronta movebo“, „wenn ich die Herrschenden nicht beugen kann, werde ich die aufrühren, die da unten sind“, dieses bei Vergil entliehene Zitat findet sich in Freuds Traumdeutung sowohl als vorangestellte Leitidee wie auch unmittelbar vor dem 20 berühmten Satz: „Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewussten im Seelenleben“ (Freud 1900, S. 613). Wie die grundlegende Haltung des Psychoanalytikers, alles in Frage zu stellen, in analytisches Handeln überführt werden kann, beschreibt Paul Parin in „Gesellschaftskritik im Deutungsprozess“ (Parin 1975). Eine gesellschaftskritische Deutung sei notwendig, schreibt er, wenn ein gesellschaftlicher Faktor so eingreife, dass er aus der Kindheit stammende Konflikte mobilisiere und infolgedessen die gesellschaftliche Gegenwart nicht wahrgenommen werde (S. 38). Bei der sozialkritischen Deutung handelt es sich nicht um eine abstrakte, gleichsam blutleere, gutmenschenartige Gesellschaftskritik, sondern sie zielt darauf ab, die Konflikte zwischen den Interessen des Analysanden und denen seiner engeren und erweiterten Realität aufzuzeigen, ständig auf ihn einwirkende Widersprüche, die er nicht wahrzunehmen vermag. Damit bezieht Paul Parin eindeutig Position, weil es für ihn selbstverständlich war, dass ein Analytiker eben nicht neutral sein kann, wenn er, wie unabdingbar, stets auf Seiten des Unterdrückten steht, was auch Konsequenzen für die Technik der Psychoanalyse hat. Paul schreibt: „Im Prinzip vertreten wir immer die abgewehrten Triebe. Wir finden sie zumeist in abgeänderter Form vor, wie sie ins Ich aufgenommen worden sind. Nach und nach werden sie auf unsere Person übertragen. Jetzt sind wir – soweit wir unsere Gegenübertragung durchschauen – neutral. Doch kaum beginnt der Deutungsprozess, sind wir schon wieder auf Seiten des Unterdrückten: gleich, ob wir das Introjekt eines triebfeindlichen Überich oder die Macht eines gesellschaftlichen Zwanges unserer deutenden Kritik unterziehen“ (Parin 1975, S. 54). 21 Für Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy war die Psychoanalyse nicht nur Wissenschaft, sondern zugleich, wie für viele große Analytiker vor ihnen, „Tarnkappe ihrer unnachgiebig revolutionären Gesinnung“ (Parin 1985/1986, S. 12). Goldy, die schon im Spanischen Bürgerkrieg und später dann zusammen mit Paul mit Titos Partisanen gegen den Faschismus gekämpft hatte, brachte rückblickend ihre gemeinsame „Patentlösung“ auf die einprägsame Formel: „Für mich war die Psychoanalyse die Fortsetzung der Guerilla mit anderen Mitteln!“ Paul Parin hatte irgendwann einmal in einem Interview gesagt, dass er >am liebsten Hacker wär`<, ein Wunsch, viel eher noch ein nicht ganz ernst gemeintes Bekenntnis, das er in seinem Vortrag an Universität Konstanz zu begründen suchte. Zwar habe er ein vernünftig klingendes Motiv, so sagte er, nämlich der Umstand, dass jeder technische Fortschritt bislang auch Tür und Tor für Missbrauch geöffnet habe und gerade der Computer wie kaum eine andere Neuerung dafür geeignet sei, doch seien es vornehmlich irrationale, emotionale Beweggründe, die ihm diesen Gedanken eingegeben hätten. Ich lasse Paul mit seinem Vortragstext zu Wort kommen: „Ich bin – wie wir alle – in eine Welt eingespannt, die mich bestimmt und meine eigene Initiative einschränkt. Ich vergleiche meine Lage manchmal mit der des Konstrukts eines homo soziologicus: restlos ausgeliefert, völlig machtlos, ob ich in den Gang der Politik eingreifen, Geschichte machen, Tomaten essen oder in guter Luft den Schlaf des Gerechten schlafen will. Von allen Seiten umgibt mich jederzeit Unheil und Unglück, man made disaster. Ich habe nicht die geringste Möglichkeit, gegenwärtigem Unglück entgegenzutreten oder einem Unheil zu wehren, das ich kommen sehe. Das macht mich wütend. Da ich nichts Wirksames tun, den eigenen Willen nirgends auch nur entfernt vernünftig und wirksam einsetzen kann, will ich wenigstens jenes Symbol der Einspinnung und Einnetzung treffen, das mich in den Irrsinn unserer Welt einfädelt 22 und mit ihr verknüpft. Ich tobe gegen ein Symbol der modernen Welt“ (Parin 1996, S. 4f.). Wenn Paul Parin sich als >moralischen Anarchisten< sah, so war er für Christa Wolf ein >fröhlicher Anarchist<, weil sie sein Werk mit dem Wort >Utopie< verband. Und so schreibt Christa Wolf ihm zu seinem 90. Geburtstag: „Alles, was Sie tun und denken, was Sie sagen und schreiben, war und ist durchtränkt, gesättigt von Utopie. Von den Gestalten in einem Ihrer Bücher sagen Sie es direkt: „Sie wollen mehr, ein richtiges, großes Gewissen. Alles soll gerechter werden, womöglich die ganze Welt“ (Christa Wolf 2007, S. 16). Und diese Utopie ist auch die Triebfeder seiner Ethnopsychoanalyse. 2001, vier Jahre nach dem Tod Goldys, damals, als seine Freunde befürchteten, ihn würde, weil er es da und dort auch angedeutet hatte, nichts mehr im Leben halten, dann fand er über das Schreiben zurück und, inspiriert vom Gedanken an das gemeinsame Lebensprojekt der drei Begründer der Ethnopsychoanalyse, schrieb er in dem Aufsatz „Ethnopsychoanalyse – off limits“: „Ethnopsychoanalyse ist eine Forschungsmethode, die wir entwickelt haben. Off limits ist eine militärische Formel, mit der in einer besetzten Stadt ein Teil abgegrenzt wird, in dem die Army herrscht. Beide Phänomene haben den Anspruch, ihr Gebiet radikal, also grundlegend, zu beherrschen. Ich verbinde das Militärische mit unserer Wissenschaft, weil ich die Absicht habe, selbstgesetzte Grenzen zu überschreiten, wie es siegreiche Armeen tun“ (Parin 2001, S. 160). Die >Utopie< des >fröhlichen Anarchisten< betritt als tiefster Beweggrund seiner ethnopsychoanalytischen Forschungen in Afrika offen die Bühne, wenn Paul Parin die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bei den Agni einleitet, mit folgenden 23 Sätzen, die ich zum Abschluss zitiere: „Während die abendländische Zivilisation unaufhaltsam die meisten anderen Kulturen unterwandert, transformiert oder zerstört, wird das Unbehangen in unserer Kultur immer unerträglicher. Man fragt sich, ob es nicht irgendwo auf der Welt bessere sozialpsychologische Lösungen gibt, als wir sie haben: eine Erziehung zu freieren, glücklicheren Menschen, die ihre Aggressionen nicht in mörderischen und selbstmörderischen Kriegen abführen, die ihre Kinder nicht opfern, ihre Erzeuger nicht hassen und ihr Liebesleben nicht verstümmeln müssen. Und man sucht nach sozialen Einrichtungen, die dem Menschen weniger Zwang auferlegen und seiner Natur angemessener sind als die unseren.“
(Parin, Morgenthaler und Parin-Matthèy 1971, S. 549). 24