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Vortrag Ursula Rütten

"Bauen wir mit Hypothesen eine neue bess're Welt, hast du Marx und Freud gelesen, weißt du, wie sie dann zerfällt".

Facetten des Schriftstellers Paul Parin

Als ich von Herrn Brodbeck gefragt wurde, ob ich aus Anlass des ersten Jahrgedächtnisses für Paul Parin im Rahmen dieses Symposiums einen Vortrag über dessen literarisches Schaffen halten wollte, reagierte ich spontan eher abwehrend. Ist nicht schon so viel gesagt und geschrieben und interpretiert worden zu diesem Thema!? Vor allem von ihm selbst, über sich selbst, und literarisch geadelt! Und dies gewürdigt mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen. Ist mein Leitargument für dieses ‚Eher-Nein'. Ich erinnere die vielen engagierten Rezensionen seiner Schriften. Und die Lobreden anlässlich der diversen Festivitäten, auf denen Paul Parin für sein Schaffen geehrt wurde. Christa Wolf, zum Beispiel, zur Verleihung des Erich-Fried-Preises der Stadt Wien, Anfang Mai 1992:

Hier sind keine Lebens- und Handlungsmaximen zu beurteilen. Das stünde mir auch weiß Gott nicht zu, sondern ein literarisches Werk ist auszuzeichnen. Wenn nur nicht gerade dieses literarische Werk - ob in seiner essayistischen oder in seiner epischen Ausformung - so unübersehbar der gleichen Quelle entspränge wie das „Tun" dieses Autors. Es scheint einfach: Eine Vision ist so „wirklich", das heißt: wirksam, wie man bereit ist, sich rückhaltlos für sie einzusetzen; die frühe, dann immer sich wiederholende Erfahrung in Kauf zu nehmen, entweder hinter der Zeit zurückgeblieben oder zu weit vorausgeeilt zu sein. Zur Unzeit auf einer sozialen Rolle zu bestehen die aus dem Leben der Völker gestrichen war - frei zu tun, was man selber für richtig hält.

Oder die Klagenfurter Literaturwissenschaftlerin Helga Rabenstein-Moser: „Die Orte des Paul Parin: Aufenthalt und Bewegung". (In: „Leidenschaften. Paul Parin zum 90. Geburtstag") Die Essenz: Triest weist den Weg zur Psychoanalyse, das väterliche Gut Novi Klošter in der slowenischen Savinjska Dolina den Weg zur Literatur. Oder auch K. M. Michels Laudatio zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, 1997:

„Es gibt kaum eine Lobrede, die nicht abgestanden wirkt. Lob, so scheint es, wird schnell schal, sogar ranzig. Der Spott, der Zorn, der Hass bleiben länger frisch. Liegt das daran, dass sie ihren Adressaten verletzen, während die Lobrede ihn nur streichelt? Dann müsste man das Lob so formulieren, dass es ebenfalls sticht und kratzt."

Diese Sichtweise dürfte Paul Parin sicher erfreut haben.  Als ich hörte, dass Christian Maier auf dieser Tagung über die Frage sinnieren wollte „Warum Paul Parin am liebsten Hacker geworden wäre", gab mir das schon einen Ruck, nämlich in die Richtung: Aha, da will etwas Neues, Anderes, Eigenes ausgeleuchtet, ein „fremder Blick" auf längst vertraut Geglaubtes geworfen werden. Ein Ansporn also, eine Orientierung, in ähnliche Richtung zu suchen und der Anfrage zuzustimmen. Weder lobstreichelnd, noch stechend und kratzend.

Die Voraussetzungen: oral history

Bitte betrachten Sie mich nicht als Parins „Biographin", wie ich im Programm dieses Symposiums ausgewiesen worden bin, nur weil ich einmal ein Buch über „Erzähltes Leben" von Paul und Goldy Parin - „Im unwegsamen Gelände" - verfasst habe. Ich sehe mich eher als Lebensabschnittsporträtschreiberin, die einige Ausschnittsvergrößerungen beider Lebenswege und persönliche Zoom-Einstellungen auf offene Fragen vornehmen durfte. Die Europäische Verlagsanstalt in Hamburg, EVA,  wollte es so, als Geschenk zu Pauls 80. Geburtstag, 1996. Dieser Verlag veröffentlichte 1980 Paul Parins ersten, autobiografisch inspirierten Erzählband „Untrügliche Zeichen von Veränderung.  Jahre in Slowenien" sowie die meisten seiner darauf folgenden literarischen Werke. Die bedeutendsten wissenschaftlichen erschienen in Neuauflage bei EVA. Von jenem „Lied von der Papille" aus dem Jahr 1938, dem die Zeilen einer Strophe entnommen sind, die ich als Titel für diesen Vortrag wählte, habe ich erst zehn Jahre nach meinen Recherchen und Interviews für dieses Buch von Paul erfahren. Beiläufig und vom Autor als unreifes Frühwerk beschmunzelt und potenziellen Verlegern vorenthalten. (Sie werden es kennenlernen).

Ich bin Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy zum ersten Mal begegnet Ende der 1980er Jahre beim Internationalen Schriftstellertreffen Vilenica im slowenischen Karst. Aus anfangs journalistischem Interesse und der gemeinsamen Leidenschaft für Jugoslawien entstand alsbald freundschaftliche Nähe. Mit diesem wesentlichen Bonus: nämlich wiederholt Gast sein zu dürfen bei ihnen in Zürich am Utoquai 41. In diesem Zentrum oral vermittelter Wissensmacht und damit auch Verführungsmacht. (Dazu muss ich mich vor diesem Publikum wohl nicht näher erklären). Ohrenzeugin werden zu dürfen vor allem von Pauls Erinnerungen an vergangene, verlorene Zeiten, Menschen, Landschaften, die er durch sein assoziatives Geschichtenerzählen wieder zum Leben erweckte. In immer neuen, sich ergänzenden Variationen, immer neuen Details. Alles wird voller Neugier beobachtet, reflektiert, gibt Stoff für weitere Geschichten. Für dieses Konvolut von Erzählungen über beider Leben: in Opposition zu den herrschenden Verhältnissen und Mächten und zugleich in tiefer, liebevoller Zustimmung zu dieser Welt:

(1)

Ein Psychoanalytiker könnte als Kind keinen besseren Anschauungsunterricht haben als die starr durch Machtverhältnisse und Arbeitsteilung gegliederte, gegen außen, von der profanen Welt der Bauern und der Städte durch Wiesen und Forste getrennte Welt eines Großgrundbesitzes, einer vielköpfigen Großfamilie, die untergründig von Liebe und Hass durchströmt und bewegt wird. Die Rätsel des Lebens müssen erst hier gelöst werden, bevor man hinausblickt in die unheimliche und verführerisch lockende Fremde.

Derlei gedankliche Lebensbögen spannte Paul Parin am liebsten in den späten Abend- und Nachtstunden. Das soeben Gehörte ist ein Zitat aus „Untrügliche Zeichen ...",  mit der Stimme eines Schauspielers aus einer meiner Radiosendungen über Paul Parin. Der Erzähler war zu diesen späten Stunden stets aufgelaufen zur Hochform. Stimuliert von Rotwein, filterlosen Gitanes und irischem Whiskey nach einem guten Nachtessen. Dies oft auch eine physische Herausforderung für den meist viel jüngeren Gast. Paul ließ kaum Gelegenheit, vor dieser Kondition zu kapitulieren. Wer mit ihm öfter beisammen war, hatte die eine oder andere Geschichte schon mündlich gehört, bevor er sie irgendwann einmal gedruckt nachlesen konnte; und doch schien sie immer wieder neu gesponnen worden zu sein.

Goldy war stets dabei, sprach viel weniger. Goldy hörte zu. Kommentierte ab und an Pauls Gedanken und animierte ihn, Weiteres, Anderes, weit früher oder eben erst Zurückliegendes, scheinbar Nebensächliches, doch auch zu erzählen, weil es wichtig sei für den gegebenen Zusammenhang. Ein eingefahrenes Rollenspiel. Essentiell auch für das Literaturschaffen von Paul Parin.

Von Goldy Parin erinnere ich zwei Aussprüche, auf die sie immer wieder gerne Bezug nahm in verschiedenen Kontexten, und die dann selbstverständlich auch Eingang fanden in den reichen Zitatenschatz von Paul: nämlich:

„Alles, was still steht, wird grau angestrichen",  und - ein Gedanke von Peter Paul Zahl -

„Das Gehirn ist das erotischste Organ des Menschen"

 

Vom Erzählenden zum Schreibenden

(Auszug aus Sendung: Fährten eines Jägers aus Leidenschaft", WDR 2005)

Ich erinnere mich noch ganz genau, als ich an einem Samstag am 15. März 1952 mit Dr. Parin und Goldy in diese Wohnung kam. ... mit drei Behandlungsräumen, ein Wohnzimmer und eine Küche, wo man lebte. Dr. Parin und Goldy haben da gelebt, hier in dieser Wohnung. ... Die ... schien mir enorm, es gab gar keine Möbel, nur die Vorhänge hingen. Fünf Telefonapparate standen in den verschiedenen Zimmern am Boden, und es gab einen Stuhl. ....

Ich bin auf Empfehlung von Freunden zu Dr. Parin gekommen. In den ersten Jahren musste ich sehr viel schreiben, Berichte, alles Mögliche. Da war ja auch noch Dr. Morgenthaler, und ich war ein Diener zweier Herren. Für die Goldy musste ich nicht arbeiten. Die Goldy hat alle schriftlichen Sachen selber gemacht.

 Ich hätte keinen besseren Chef finden können. Mit Goldy ganz ähnlich. Mit Goldy ist die Beziehung noch ein wenig anders gewesen, weil sie eine Frau gewesen ist.

Er hat begonnen Erzählungen zu schreiben. Das ging sehr langsam. Er hat eine geschrieben, dann gab er sie mir zum abschreiben. Dann gab es ein paar Monate nichts, die arbeiteten ja, 8 - 9 Stunden Analysen am Tag. Dazwischen, Samstag, Sonntag, und nachts hat er sich die Sachen ausgedacht und mit Goldy besprochen. Dann kam es: ja das könnte man ja zusammenfassen, und dann kamen die „Untrüglichen Zeichen von Veränderung".

Ruth Bitterlin war die erste und einzige Sekretärin und vertraute Angestellte der Praxisgemeinschaft Morgenthaler - Parin - Parin-Matthèy über die Jahrzehnte ihres Bestehens hinweg. Schließlich war sie die Sekretärin und Vertraute des Schriftstellers Paul Parin, die ihm auch vorlesend zur Seite stand, seit seiner Erblindung 2006. Ruth Bitterlin bezeichnete sich in diesem Interview vor fünf Jahren selbst als „lebendiges Mobiliar" dieser Praxis- und Lebensgemeinschaft am Utoquai 41. Sie war wohl sicher auch das personifizierte Symbol für das Bedürfnis insbesondere von Paul Parin nach Kontinuität, festen Strukturen und Ritualen in seinem Alltag zuhause.  Ruth Bitterlin verstarb in diesem März, unter großer Anteilnahme des Freundeskreises von Goldy und Paul Parin, weit über Zürich hinaus, der sie als die „gute Seele vom Utoquai" würdigte.

„Wie ich erzähle", ist eines der treffenden Beispiele für meine eingangs erwähnte Skepsis, über Paul Parin als Schriftsteller etwas beitragen zu können, was er nicht schon selber in Bestversion dargeboten hätte. Der EVA-Verlag hat neben diesem letzten Beitrag in Parins zweitem Erzählband, „Karakul", 1993, sogar zusätzlich das Faksimile dieser handschriftlich an den Verlag ergangenen Anleitung zum Schreiben von Erzählungen abgedruckt. Und das geht so: Paul erzählt Goldy von irgendeiner Begebenheit: zum Beispiel von den Schafen der Ilona Golden. Goldy hört ihm wie immer aufmerksam zu und sagt: „Das solltest Du einmal schreiben". Paul schreibt, liest ihr die entstandenen Texte vor und korrigiert, bis sie zufrieden ist.

Dann dreht und brodelt und ordnet sich die Geschichte in meinem Kopf. So manches drängt sich dazwischen: Wut, Hilflosigkeit, ‚Gedanken eines entsetzten Zuschauers zu den Nachrichten vom Krieg in Europa, von Kriegen, Terror, Ausbeutung und Elend in aller Welt. Ohnmächtiger Zorn über Irrsinn, Gemeinheit und Dummheit der Politik hier und anderswo. Bis mich die Welt doch wieder einmal in Ruh' lässt. Dann setze ich mich hin und schreibe.

Eine Grundvoraussetzung für diese Einheit ‚Erzählen und Schreiben' ist also die längste Zeit seines Lebens: Sie ist da, wenn eine Geschichte, die lange im Hinterkopf gebrütet hat, nach außen drängt. „Ich würde nicht schreiben, wenn Goldy meine Texte nicht gerne hören oder lesen würde", fügt Paul hinzu. Zum Glück hatte er gelernt, seine schöpferischen Kräfte nach ihrem Tod 1997 allmählich wieder zu reaktivieren und neu zu justieren.

0T 2  (2005)

...Dann hab ich gesehen, dass ich so gerne schreib, dass dann in langsamer Folge andere erzählende Bücher erschienen sind. Ich traute mir nie zu, einen durchgehenden Roman zu schreiben. Ich glaub, dafür bin ich zu alt, um all die Einflüsse, die hineingehören in einen Roman, bei mir zu haben. So ist es aufgeteilt in Erzählungen, die zusammen schon einen Roman ausmachen. Ich schreib auch jetzt wieder Erzählungen. Ob die noch fertig werden, weiß ich nicht. Ich bin jetzt sehr langsam geworden im Schreiben, und meine Motivierung, dass ich noch bekannt werden müsse, das ist mit nahezu neunzig Jahren sehr, sehr ungewiss, ob mir das noch etwas bedeuten würde.

Paul Parin im Dezember 2004.

Seit 1980 publizierte Paul Parin sogenannte schöngeistige Literatur: Geschichten, Episoden, Anekdoten, Novellen, Essays, Vorworte, Epiloge zu Werken anderer Autoren, ja, als eine Ausnahme, auch Haiku. Seit 1980 gilt Paul Parin auch als Schriftsteller. Bitte urteilen Sie selbst über die Relevanz solcher Zuschreibungen:

Uns kamen sie vor wie die Römer der Spätzeit: stolz auf die verblassende Erinnerung an ihre längst vermoderten und halbvergessenen Krieger, hochmütig herunterblickend von der Höhe einer vergangenen Macht, in deren Schein der Zerfall noch armseliger und schmerzlicher erscheint. Intelligent und raffiniert breiten sie den Purpur der zerrissenen Togen ihrer gesellschaftlichen Etikette über die Blöße der Sittenlosigkeit und Armut, opfern sie in ausschweifenden, ruinösen Totenfesten, mit den Ritualen gekaufter fremder Götter, den Manen, die sich zu Recht an ihren Kindern rächen. .. Doch reicht die müde Übung der Reste ihrer Überlegenheit durch die Jahrhunderte aus, um ihre noble Dekadenz hinzuziehen. Sollten einst die Leiber der letzten vom Palmwein berauschten edlen Herren und schönen Damen von den Sklaven erschlagen, vom Urwald überwuchert liegen, würde man erkennen, wie viel Geist und Anmut, skeptischer Verstand und melancholisches Wissen mit ihnen unterging. Keiner ihrer Könige, keine Magierin, konnte die Erinnyen ihrer Leidenschaften wirksam genug beschwören. So tragen sie den Glanz ihrer Väter und den Schatz ihres Goldes durch den nächtlichen Terror ihrer Ängste, durch unzählbare tropische Regen, über rasch vergehende Urwaldpfade.

Dieser Text von Paul Parin erschien 1971. In den Buchhandlungen würde das Buch, dem er entnommen ist, unter der Rubrik  „Sachbuch" oder „Fachliteratur" zu finden sein: „Fürchte deinen nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika". Stil und Wortschatz, in dem dieser Autor die wissenschaftlichen Befunde des Forscherkollektivs Morgenthaler-Parin-Parin-Matthèy über die Dogon und Agni in Westafrika schriftlich festgehalten und seit 1963 publiziert hat, sind längst Indizien einer intrinsischen Neigung und seines Talents zum narrativ-poetischen, sinnlichen Schreiben.

In seinem 1993 erschienen Erzählband „Zuviele Teufel im Land" nimmt Paul Parin Abschied von Afrika, in einem Rückblick auf acht Expeditionen in drei Jahrzehnten. Dass ihm bereits die Erfahrungen seiner Kindheit Blick und Sinne schulten für derartige ethnopsychoanalytische Forschungen, mögen die folgenden Zitate belegen.

Vorne in einem Halbkreis um den Kessel saßen die Männer, langten sich ein Stück Fleisch des erlegten Beutetieres heraus, nagten das beste weg und reichten den Knochen über die Schulter zurück wo die Frauen in einem Kreis kauerten. So ging es weiter zu den Captifs, denen die Frauen ihre Knochen zuwarfen, die sie auffingen und den Kindern, die ganz hinten warteten, die bereits sauber abgenagten Knochen zuwarfen, bis die falben Windhunde, die knurrend im äußersten Kreis gelauert hatten, endlich den Kindern die letzten Knochen abjagten und damit fortstoben.

Das nächste Zitat ist Parins Buch „Untrügliche Zeichen von Veränderung" entnommen:

In Novi Klošter herrschte in den Jahren zwischen den Weltkriegen, als ich dort aufwuchs, der Schlossherr, mein Vater, unter ihm der Herr Verwalter, unter dem der Melker, Förster, und so bis hinunter zu den jüngsten unverheirateten Knechten. Die Frauen waren ihren Männern untertan, die Zofen und Mägde hatten ihre eigene Ordnung, ganz unten die Kinder und dann die Tiere; doch standen die Jagdhunde und der Zuchtstier nicht auf der untersten Sprosse der Leiter. In der allgemeinen Misswirtschaft des Königreichs war so ein Besitz von einer aus Neid und Respekt gemischten Aura umgeben, die eine vollständige äußere Unabhängigkeit ... vortäuschte.

Als Belletristiker bleibt Paul Parin Wissen und persönlicher Erfahrung verhaftet. Hauptthemen sind Herkunft, Jugendzeit, Bezugspersonen aus Kindheit und Jugend, Orte und Landschaften. Triest, Afrika, Jugoslawien, die Jagd. Das für die Psychoanalyse maßgebende Verhältnis von Fantasie und Realität führte ohne erkenntliche Zäsur vom wissenschaftlichen zum literarischen Erzählen und damit zur Imagination von Welt. Gewöhnlich ist der Erzähler als sich erinnerndes, zuweilen auch als mit beteiligtes Ich präsent. Als Zeitzeuge im Strudel weg brechender Epochen und deren strauchelnder, untergehender oder geschickt in die neue Zeit lavierender Akteure. Der Psychoanalytiker hinterfragt die Charaktere seiner Protagonisten, stellt die Zusammenhänge her zwischen Erlebnissen in ihrer Vergangenheit, dem sozialen und politischen Umfeld, dem sie ausgesetzt waren und der Situation, in der er sie vorfindet wenn er sie wieder trifft. Oft nach vielen Jahren und unter völlig unerwarteten Umständen. Zuweilen ist der Ich-Erzähler verstrickt in die Schicksale seiner Heldinnen und Helden. Oft genug waren es traurige Gestalten. Parins Geschichten bilden Leben ab, wie es sich hätte ereignen können, aber nicht ereignen müssen. Im Schreiben verhält er sich kaum anders als im Erzählen: nicht das lineare Zusteuern auf die Pointe interessiert ihn, sondern eher, wie es zu einer Begebenheit gekommen ist, die sich ihm ins Gedächtnis eingeschrieben hat. Wichtig sind ihm immer auch die Bedeutungen von Nebenschauplätzen, das Zusammenführen einzelner Szenen und Figuren aus dem Fundus seiner persönlichen Erfahrung und Interpretation.

0T 3: (1996)

Es ist nach einer alten Idee, dass die Erinnerung sei wie ein großer Palast, ein Gebäude, ein Platz, den man bevölkert mit Personen und Gegenständen aus der Erinnerung. .. Das gilt irgendwie für mich auch. Die Erinnerungen, was ich schreibe, sind nicht frühere Wirklichkeit, sondern es sind Erinnerungen. Wie sich mir mit der Zeit diese Erinnerungen konstelliert haben, was zusammengehört. Drum wird auch diese scheinbare Wirrsal, dass ich „Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären", Erzählungen, die nicht nur thematisch verschieden sind, nach dem Ort, der Zeit. Die Zeit ist zu erraten, aber sie ist absichtlich verwischt. Es kommen Dinge vor, die lange zurückliegen und die später sind. Das sind Erinnerungen, die ich bevölkere.

Und auch vor dieser Folie eines betont auf Beweglichkeit von Geist und Körper abonnierten Lebens entsteht die Literatur von Paul Parin: Was ist Heimat? „Heimat, eine Plombe", überschreibt er seine Rede im November 1994 beim Symposium der Erich-Fried-Gesellschaft in Wien zum Thema „Wie viel Heimat braucht der Mensch und wie viel Fremde verträgt er?", abgedruckt zwei Jahre später in einem Band der Europäischen Verlagsanstalt zusammen mit einem Essay von Peter Paul Zahl. Heimat, was ist das? Er selber habe keine. Heimat sei ein „obligat individuelles Phänomen". Ist Heimat dort, wo man geboren ist?

„Die internationale Solidarität verbindet mich mit allen Menschen dieser Welt. Ich bin Weltbürger", schreibt Paul Parin. „Das ist meine Heimat."

Und dafür gibt es zwei Vektoren: die geistige und mentale  Enge von Zürich und der Schweiz, sowie der schon in jungen Jahren vollzogene „Klassensprung":

 „Grönland liegt in Zürich. ... Das Packeis ist schon länger da. ... Die Oberfläche glänzt allerdings nicht schlecht, altes Packeis, nur etwas Dreck darauf. .. Als Psychoanalytiker und Ethnologe studiere ich die Kräfte (oder Schwächen?), die Packeis zum Schmelzen bringen. ... Schreiben kann man über unser Grönland erst, seit es im Packeis kracht. Dass es bald schmelzen wird, glaube ich nicht".

schreibt Parin im „Brief aus Grönland" zum kurzen Sommer jugendlichen Aufbegehrens im Zürich von 1968. Erstveröffentlichung im Kursbuch, Berlin, 1981. Und in Stil und Duktus einem ganz andersartigen Gegenstand angepasst, über ein weiteres „obligat individuelles Phänomen". Im Vorwort zu Lisl Pongers „Xenographische Ansichten", Wien, 1995, heißt es:

Den schönen Band aufschlagen, die fein kolorierten Photographien eine nach der anderen entdecken - und schon sind wir versucht, wie wir es einst als unvernünftige Kinder gehalten haben, das Gedruckte wegzulassen und allein bei den Bildern zu verweilen, die so schön und mühelos zum Schauen einladen und zum Träumen. Ja, auch zum Träumen. .. Doch sind wir längst nicht mehr Kinder, wenn auch vielleicht im verborgenen kindlich. ... Ich habe selber im Laufe der Jahre manchen Schauplatz der Xenographie bereist.

Und Parin zählt Länder auf von Kenia über Kleinasien bis China und Alaska, von Schottland, der Normandie bis Spanien. In dieser Reihenfolge.

Anders, aber keineswegs im Gegensatz dazu, stehen jene Landschaften, die in der Kindheit und Jugend eine dauerhafte Gestalt gewinnen, die Wüste Gobi und das Zwischenstromland nach den Schriften von Sven Hedin, das Afrika Stanleys >Wie ich Livingstone fand<, die Indianer aus dem Lederstrumpf usw. Solche Länder sind psychische Realitäten, sind kein Ersatz für wirkliches Reisen, münden aber in einer oft unbändigen Sehnsucht, wirklich einmal dort zu wandeln oder zu leben. Solche Kindheitsphantasien werden nicht aufgegeben; sie sind es vielmehr, die das Fremde zum eigenen Leben machen.

Es folgen Gedanken zum Massentourismus, der zwar nicht zwingend zur Folge habe, das Fremde und die Fremden zu verstehen, gar zum „ flächendeckenden Umdenken" zu bewegen, aber immerhin:

Die sture Unbewusstheit der Masse und des Establishments wird von der Basis her durchlöchert. Wer reisen will, kann reisen. .. Unterwegs passiert dann der ‚Klassensprung'. Herauszukommen aus dem, in das man hineinsozialisiert worden ist, das ist ein starker Anlass. Heraus aus der Klasse und natürlich auch aus der Ethnie - die man doch nie ganz los wird, auch nicht ganz los werden mag. .. Beschrieben wird mit dem Blick des Fremden, dem fremden Blick, der Vertrautes unvertraut macht, Fremdartiges heranrückt. Wer allerdings das Fremde in sich aufgenommen hat, es in sich trägt, den fremden Blick auf seine heimische Ethnie zurückwirft, der leistet etwas ganz Besonderes.

 

Unterbelichtete Facetten des Schriftstellers Paul Parin

Als junger Mann, Anfang zwanzig, kaum nach Zürich übergesiedelt, ließ sich Paul Parin von einer stadtbekannten Persönlichkeit tief beeindrucken und berühren. Es folgte eine über Jahrzehnte währende Freundschaft. In seinem Erzählband „Der Traum von Ségou" widmet Parin diesem bewunderten Menschen rückblickend eine Erzählung: „Manoli". Habe man ihn damals gefragt, wer dieser geheimnisvolle Manoli sei, habe er geantwortet, dieser sei der letzte Bohèmien:

Seine Macht kam nicht vom Charisma einer dämonischen Persönlichkeit. .. Seine Macht war eine radikale Aufklärung, die Kenntnis der menschlichen Verhältnisse, der seelischen Verstörungen, wirtschaftlichen Zwänge und der politischen Perversionen seiner Zeit. Die Verhältnisse konnte nur einer bloßlegen, der mit Konventionen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorurteilen, mit allem nationalistischen Firlefanz und archaischen, patriarchalen und sonstigen überholten Ideologien gebrochen hatte.

Jedenfalls habe ihn dieser Manoli, offenbar ein künstlerisches Multitalent, inspiriert zu einem Gedicht bzw. einem Balladentext, im Stil von François Villon und als Zeichen, dass sich sein Gesichtsfeld erweitert habe, damals, im ausgehenden Jahr 1938: Das Lied von der Papille.

0T 4:

Die Papille

blass wie Eier

strahlt im Feld das blutend rot

säufst du Fusel wirst du klüger

wenn du klug bist bist du tot.

 

Hei die Möwe

weiß und schimmernd

schwarz die Wellen braun und blau

über einem Meer von Scheiße

schwebt die zarte nackte Frau

ihren Gatten zu betrügen.

Gröhlen Songs die Seraphim.

Die im Kerker faulend liegen

geben sich dem Teufel hin.

 

Bauen wir mit Hypothesen

eine neue bessre Welt

hast du Marx und Freud gelesen

weißt du wie sie dann zerfällt.

 

An der Leber nagt der Kummer und am Bürger nagt das Bier.

Rund die Erde dort ein Schimmer fremde Welten suchen wir.

Huren Helden Bettler Hindus Taue Läuse Austern schön

Siehst du wie sie fressen schiessenhast du schon zu viel gesehn.

Doch die Perle die Papille strahlend hell das Mondenkind

Rote Segel wüst zerrissen treibt die Pest der Taifunwind.

 

0T 5 (2005)

Dieses Gedicht hab ich geschrieben bald nachdem ich nach Zürich gekommen war, und es ist ein surrealistisches Gedicht. Ich hab erklärt, weil ich damals Medizinstudent war, was die Papille überhaupt ist.

Und Parin erläutert, was man alles mit Hilfe eines Augenspiegels erkennen könne, verschiedene Krankheiten wie Vergiftungen oder auch chronischer Alkoholismus. Erste Lektionen des jungen Medizinstudenten in Zürich.

0T 6

Hier hab ich die Goldy kennengelernt, die kam aus dem spanischen Bürgerkrieg, und da war ein kleiner Kreis von undogmatischen Marxisten, die den Aufstieg des Nationalsozialismus im Auge hatten, aber unsere Form, dagegen zu protestieren, war die Form von Surrealisten. ... Ich hab das nie sehr ernst genommen, und vor allem diese surrealistisch anmutenden Exkurse im Gedicht, dass ich Marx und Freud dann hereinbringe, das kam aus meiner Ideologie. Aber es kam auch aus meiner Kritik der Linken. Da heißt es doch in dem Gedicht, das man die Welt verstehen kann. Wenn man Marx gelesen hat und wenn man Freud gelesen hat, weißt du, wie sie dann zerfällt. Wie die etablierte Macht der Macht der marxistisch-kritischen Gedanken weichen muss, denn wir sind einen Schritt weiter. .. Diesen Stil hab ich später verlassen und hab andere Sachen gemacht. Aber dieses Gedicht deckt eigentlich das was man Ideologie nennt, die politische Ideologie von mir. Da kommen Jahrzehnte, noch heute würde ich sagen, wenn man den Surrealismus richtig versteht, sind alle surrealistischen Anspielungen in dem Gedicht, die da versammelt sind, sind fast wie ein Ideologieprogramm für ein ganzes Leben.

Ich sollte mich, den Zeitvorgaben gemäß, dem Schluss meiner Betrachtung von Facetten des Schriftstellers Paul Parin widmen. Möchte aber noch kurz bei seinem lyrischen Vermächtnis verweilen, das meines Wissens nur zwei überlieferte Textbeispiele umfasst. Eben jene verwegen-juvenilen Zeilen über die Papille und die Kosovo-Haiku des greisen Paul Parin. Mit diesen Versen aus dem Jahr 2004 fand Parin erstmals eine Form, sein Requiem auf das Land literarisch zu verarbeiten, in das er einst, wenn auch nur von kurzer Dauer, so viel Hoffnung auf Veränderung der menschlichen Verhältnisse projizierte, Jugoslawien. Angeregt dazu durch ein Gastgeschenk, nämlich ein Büchlein mit Haiku, jenen kurzen, streng rhythmisierten Versen aus der japanischen klassischen Poesie. 17 Silben. 5 in der ersten Zeile, 7 in der zweiten, 5 in der dritten. Die Erklärung der Übersetzer dazu leuchtete Parin ein, nämlich dass Haiku nur in einer konstanten Friedensgesellschaft entstehen könnten, wo jeder wisse, was mit diesen wenigen Worten alles angetönt und an Assoziationen geweckt werden sollte. Nur so könnten sie eine Wirkung erzielen. Eine Herausforderung für den Schriftsteller, Ethnopsychoanalytiker und intimen Jugoslawienkenner Paul Parin, seit seinen Jahren als Arzt bei Titos Partisanen. Die Herausforderung, Haiku zu dichten für eine konstante Kriegskultur, die keinen festen Konventionen folge, jedoch auf Erfahrungen beruhe, die lange Zeit die gleichen geblieben seien. Und damit Verse zu ersinnen für ein homogenes Publikum mit verbindlichen Vorstellungen, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Wie zum Beispiel Serben und Albaner im Kosovo.

0T 7 (2004)

Nur scheinbar ist der Krieg in Kosova von Mal zu Mal und bis heute immer wieder ein anderer. Das gleiche Gesetz bestimmt die Jahreszeiten. Auf jeden Sommer folgt ein Herbst und so fort. Die japanischen Haiku und die neuen aus Kosova ordnen sich nach dem gleichen Gesetz der Jahreszeiten - immer gleich und doch immer verändert.

Zitator Parin:

Herbst.

Drei Söhne dürfen

nicht pflügen

ein Sohn ist

das Opfer der Mine

0-Ton: (Parin '04)

Die Erklärung: Im Herbst sollten die Stoppelfelder gepflügt werden. Doch sind die meisten Felder vermint. Der Patriarch hat seinen drei Söhnen verboten zu pflügen, da der vierte bereits von der Landmine zerrissen worden ist.

Zitator Parin:

Winter.

Eiskruste zermahlen

im Strohfeuer bleibt orba kalt

Das Vlies gibt Wärme

 

Die Ketten der Panzerfahrzeuge haben die Eiskruste auf den schlammigen Wegen zermahlen. Die Männer können nicht im Wald Holz holen. Das Strohfeuer kann die orba, die Wassersuppe, nicht heiß machen. Doch das Schaffell schützt vor der Eiseskälte nachts in der Hütte.

Zitator Parin:

Frühling.

Duft der Narzisse.

Tausend Blumen zertreten

die einzige blüht

0-Ton: (Parin '04 - Atmo Salon)

Im Frühling sind Zehntausende von serbischen Freischärlern vertrieben worden. Nur hoch oben in den Bergen an der albanischen Grenze gibt es Wiesen von duftenden Narzissen. Die Stiefel der Fliehenden haben die Blumen bis auf eine einzige zertreten.

Zitator Parin:

Sommer.

Prall voll bleibt der Sack.

Zerbrochen das Püppchen im Staub -

aus rötlichem Plastik

 

0-Ton: (Parin '04)

Da endlich die Wege trocken sind, werden amerikanische Hilfsgüter in den Hof gebracht. Der Sack mit Maiskörnern muss warten. Weil alle Mühlen kaputt sind, kann man die steinharten Körner nicht mahlen und verzehren. Im nächsten Jahr wird sich zeigen, ob die lehmige Erde das Saatgut zum keimen bringt. Die Kinder haben von Schokolade geträumt. Enttäuscht zerbrechen sie das Püppchen „for the kids"

Zitator Parin:

Sommer.

Nutzlos wie ein Ahornblatt

im Herbst

Flattert das rostrote Tor

im Sommerwind

0-Ton: (Parin '04)

Der Hof geplündert, die Menschen sind fort, der Himmel das Dach. Das eiserne Hoftor hat nichts mehr zu bewahren. Bald wird es am Boden liegen wie die rostroten Blätter des Ahorns im Herbst.

Kein abschließender Gedanke über Paul Parin ohne Goldy. Sie fand ja schon Erwähnung, aber viel zu beiläufig, um ihren Stellenwert in Pauls Leben zu unterstreichen. Als Ehepartnerin, wäre allzu profan ausgedrückt, ebenso wie Berufskollegin oder Gesinnungsgenossin. Als Muse? Diese männlich-chauvinistische Konstellation wäre überhaupt nicht infrage gekommen. Goldy Parin war nie jene Gattin, die dem Hausherrn im emotionalen Wärmebett des privaten Raums Rücken und Kopf freihielt, auf dass dieser sich seiner Karrière im Weltmaßstab schöpferisch widmen könne. Goldy war dem Fuchs seine Katze.

0T 8 (1996)

Paul: Ich bin ein Fuchs, weil ich schlau bin, gemildert durch Skepsis.

Goldy: Der Paul ist ein Fuchs, weil ich Füchse gern habe. Sie sind schlau und wunderschön.

Der Fuchs war für die Goldy ein Lieblingstier, und sie hats keramisch gemacht. Ich aber, als ich ein kleiner Bub war, hatte ich einen Teddybär gehabt, den hatte ich ganz gern. Aber eigentlich, mein Lieblingstier war eine Katze, die war schwarz-weiß gefleckt und auf einem Brettchen montiert, mit der musste ich immer ins Bett schlafen gehen. Wenn sie nicht da war, musste die Kinderfrau suchen, wo sie unter einem Möbel versteckt ist. Das war mein Kuscheltier. Meine Mutter hatte nicht verstanden, wieso ich gerade diese stachelige Katze nehme und nicht den Teddybär.

Weil die Goldy so selbständig war, sie hat Katzen sehr gerne gehabt, sie sind ja selbständiger als Hunde, sie wollen ihr eigenes Leben leben, und gleich hab ich gesagt: Du bist wie eine Katze. ... Ich hab immer so schlaue Sachen gemacht, ...  z. B. wie wir uns kennen gelernt hatten, wie ich mich beliebt gemacht hab bei ihr, da hat sie immer gesagt, ich sei ein schlauer Fuchs. ... Ich hab immer eine große Abneigung gehabt, mich an der Nase herum führen zu lassen.

Und mit diesen Stichworten und einer märchenhaften Liebeserklärung möchte ich meine Ausführungen über Facetten des Schriftstellers Paul Parin schließen. Diese mag wohl die unbekannteste und meines Wissens nie lobgestreichelte sein.

Sinnend saß Natur an einer klaren Quelle, netzte die Füße im sprudelnden Nass, wiegte die Stirn unter dem grünkühlen Schattendach alter Platanen. Da tauchte aus den feinblättrigen Farnen drüben, an der anderen Seite des Quells, ein Geschöpf auf, das reizender nicht sein könnte. Das glänzende weiche Fell (..), das Köpfchen auf den Rumpf gesetzt (..), und dann der Blick: bernsteingelb-leuchtend, smaragdgrün im Blätterdunkel. Das Geschöpf ist in federnden Sätzen auf dem Ufersand des Quells gelandet. Ein rosa Zünglein schlappt tröpfchenweise Wasser. Mit der Bewegung einer leise heruntersinkenden Sternschnuppe taucht es ein Pfötchen dahin, wo dunkle Fischlein über den Kiesgrund wirbeln, tut ihnen aber kein Leid, hat nur einen Augenblick lang die feingeschliffenen Krallen vorgestreckt, gleich wieder zurückgezogen, streckt sich, gähnt und verschwindet drüben im Dickicht mit einem Gang so leicht und federnd wie kein anderes Wesen. (21, 22)

Soll ich sie aufzählen, die glatten glänzendschwarzen, erdbraunen und gar die elefantengrauen Schlankkatzen der mittleren Breiten, die seidenhaarigen persischen und sonderbar dünnhaarigen aus der ägyptischen Wüste. Nicht zu vergessen die gut getarnten Tiger der Laubwälder und im afrikanischen Busch getupfte Ginsterkatzen. Man sah, wie fellbewusst die Tierchen sind, kennen nichts Wichtigeres als das glatte Fell ständig wieder zu schlecken und noch besser zu glätten. Wir wissen ja, sollte das heißen, dass das feine, warme Fell unser Weg zur Schönheit ist. (22, 23)

Als Natur dieses lautlose und federnde Satzen und schleichende Schreiten gesehen hatte, war sie vom Dämon des Schönen ergriffen. Die und keine andere; das wird das schönste Geschöpf sein.

So einfach ist es aber nicht. Gesagt ist noch lange nicht getan. Es waren noch Probleme zu lösen, ein praktisches, um die Nahrung des immerhin als Raubtier gestalteten Katzentiers zu garantieren, und ein Rätsel, nach der Erfahrung früherer Wahlverfahren. Wo finden wir ein zweitschönstes Tier, das alle die seltenen Merkmale eines schönsten Geschöpfs ebenfalls hat? Damit der Unsicherheit, die jedem ästhetischen Urteil anhaftet, Rechnung getragen ist. Da es so mühsam gewesen ist, das schönste Geschöpf festzustellen, wollte Natur sich überhaupt nicht mehr dreinreden lassen. Die Nahrung zuerst. Es gibt ein Felltier, das genau die gleiche Nahrung braucht wie Katze und Kater. Für kleine Nager gibt die Erde in fast unbegrenzter Menge Nahrung her. .. Auch wenn Katz und Fuchs sich vermehren und sich an Mäuschen gütlich tun: Knapp wird es nie sein.

Es ist heraus! Der Fuchs wäre das zweitschönste Geschöpf ganz ohne die Mühe, eine eigene Überlebensration herzuzaubern. Doch schön? Er hat ein Fell, doch ist er nicht immer rot, eben Rotfuchs oder Rotrock mit langen weißen Schnurrhaaren an der Schnauze; darin der Katze ähnlich.

((Die unberechenbare Klimapolitik des Erdballs hat einmal was Erfreuliches bewirkt. Es gibt die dickfelligen weißen Polarfüchse, die glänzendschwarzen Silberfüchse, den hochbeinigen Schwarzpfotenfuchs bis zu dem kleinen, mit ganz feinem - aber niemals struppigem - Fell ausgestatteten Fenek, dem Wüstenfuchs. Sogar die Sprünge der Füchslein nach den flüchtenden Wüstenspringmäusen könnte man den zarten ägyptischen Sandkatzen zutrauen. Ein Hindernis schien darin zu liegen, dass Katz mit dem Menschen zusammen lebt, Fuchs zwar als schlau gilt, aber einen schlechten Ruf bei den Menschen hat. Er sei diebisch, frech, hinterhältig und verräterisch. Das hinderte die Menschenweiblein nicht, von Adam erbeutete, den Füchsen über die Ohren gezogene Felle um den Hals zu schlingen oder sich ganz in Fuchsfell zu hüllen. ...))

Natur wusste: bereits im bescheidenen Anteil am genetischen Erbe war vorgesehen, dass sich Fuchs und Katz nie treffen würden. Wenn es Anlass gab zu fliehen oder wenn der Trieb zu Sex und Liebe in die Knochen fuhr, raste Katz immer nur hinauf. ... während Fuchs, wenn es einmal nötig war, immer hinunterstrebte. ...

Aber was passierte in den dreißiger Jahren, als beide Tiere auf lange, weite Reisen gingen. Wer konnte am Äquator unten - oder oben? - noch wissen, wo es hinauf- und wo es hinunterging? Irgendwo zwischen China und Spanien, in Alaska oder in Afrika weiträumig unterwegs kreuzten sich ihre Wege. Sie berochen sich kurz, er fing eine gut genährte Springmaus, ließ sie laufen, Katz fing sie auf. Es war lustig, zusammen zu jagen, zu spielen; auch die Liebe stellte sich ein. ... Ihr Schnurren und sein Bellen - ohnehin nur des Nachts bei Mondschein - klangen so gut zusammen wie eine natürliche Melodie. ...

Wird es ein Leben geben, in dem Katz und Fuchs sich lieb aneinander schmiegen, wie es damals in den dreißiger Jahren irgendeines Jahrhunderts einmal - und eben nur das eine Mal geschah? Würden sie sich lieben? Werden sie zusehen, wie endlich der Mensch verzaubert von der vereinten Schönheit von Fuchs und Katz seine ewigen Streitereien vergisst und dem Blick der weisen Katze nicht mehr ausweichen und sich verstecken muss; wie der Rotrock, wie die Silber-, Polar-, die Busch- und Wüstenfüchse sich vertrauensvoll in seine warmen Zimmer und Höhlen legen? Werden die bösen Hunde und die rasenden Autoräder anhalten, Fuchs und Katz verschonen? Ob es das geben wird? Sicherlich! Das ist doch ein Märchen.

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