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- Mosou

Leid und Freud in Partnerschaften: bei den matriarchalen Mosu in China

von Wolfgang Hekele (2008)

Geografie:

Die Mosu leben in Südwestchina im Grenzgebiet Yunnan/Sichuan. Das Kernsiedlungsgebiet liegt auf knapp 3000 m Höhe um den Lugu See u. im Hochtal von Yongning. Die Berge erreichen hier eine Höhe bis auf 4400 m. Das Klima beschert den fruchtbaren Äckern der Mosu reichlich Regen. Die Temperaturen reichen von - 3 im Winter bis 37 im Sommer.

Ethnische Identität u. deren Entwicklung

Die Mosu stellen eine von den 55 Minderheiten China`s dar. Es ist eine Ethnie mit 15.000-20.000 Mitgliedern, die ihre eigene Sprache u. Schrift hat.

Erstmals erwähnt werden sie um das 4 Jahrhundert n. Ch., gesicherte schriftliche Schilderungen existieren seit 1253. Seit dieser Zeit bis zur kommunistischen Machtergreifung 1949 bestand diese Ethnie aus einem kleinen, dominierenden u. über das Land verfügenden patriarchalen u. einem überwiegenden matriarchalen Anteil.

Lebensform: Wie leben die Mosu?

Die Vielzahl der Mosu leben in kleinen Dörfern. Das Dorf, welches ich untersuche, besteht aus 7 Familien mit insgesamt 84 Familienmitgliedern. Die Familien sind relativ groß, wie es beispielhaft die durchschnittliche Stärke von 12 Mitgliedern/Familie des von mir untersuchten Dorfes zeigt.

Den Mosu geht es bezüglich Lebenserhaltung im Vergleich mit anderen ethnischen Gruppen gut. Seit 20 Jahren gibt es keine Hungersnot mehr.

Sie leben von Ackerbau, Viehzucht, Fischfang am Lugu See, Transporthandel u. Lohnarbeit. Vom Verkauf von Ernteerträgen u. Vieh kaufen sich die Familien Haushaltsmittel, Kleidung u. Gerätschaften.

Abriß Entwicklung:Wie ist ihre familiäre Lebensgemeinschaft?

Die Mosu wohnen in großen Gehöften. Es sei angedeutet, dass es einen großen Hauptraum gibt, in dem zumeist die älteste Frau oder Familienchefin wohnt, u. in dem sich alle zu den Mahlzeiten u. besonders abends nach dem Essen zum Zusammensein treffen. Die Frauen haben nach der Initiation zumeist um das 13. Lj. eigene Zimmer, während die Männer zusammenschlafen in einem Hauptraum.

Bezüglich der Arbeit kümmern sich Frauen um das Haus, Viehfüttern, Einbringen des Viehs abends in die Stallungen, Pflanzung /Ernte von der Nutzpflanzen, Herstellung von Butter, Tofu u. Solimar (Likörgetränk) etc.. Die Männer erledigen die schwereren Arbeiten, z. B. Bauarbeiten an den Häusern, schwerere Feldarbeiten, Transport von Ernterträgen mit Vieh etc.. Sie arbeiten hauptsächlich für die eigene Mutter-Familie, stellen aber auch ihre Arbeitskraft für die Familie, in welcher ihre Azhu-Partnerin lebt, zur Verfügung.

In religiöser Hinsicht werden nebeneinander mehrere Religionen praktiziert; die jeweiligen Religions-Vertreter haben für die Mosu sehr unterschiedliche, differenzierte „Aufgaben.“ Neben Berg- u. Naturgottheiten u. Ahnenkult u. der ursprünglichen Mosu-Religion des Dabaismus spielt der tibetische Lamaismus eine große Rolle.

Abriß Entwicklung: Wie ist ihre familiäre Lebensgemeinschaft?

Bez. psychischer Entwicklungsaspekte sei angedeutet, dass es bis vor einigen Jahren üblich war, Kinder bis zur nächsten Schwangerschaft zu stillen. Dies konnte mehrere Jahre gehen.

Ich habe einen Vorgang beobachtet, den ich als Anregung zur Separation u. Erziehung zum Teilen interpretierte. Kinder bekommen um das 1 Lj. Nahrungsmittel (z. B. Obst) von der Mutter in den Mund „geküsst“, die sie an sie u. alle anderen Familienmitglieder von Mund zu Mund wieder zurückgeben müssen.

Die Kinder haben sehr intensiven Körperkontakt, in der ersten Zeit besonders zur Mutter, aber auch von Anfang an zu allen anderen Familienmitgliedern. Wenn die Mutter auf dem Feld ist, kümmern sich Großmutter, aber auch schon Kinder um die Kleinen. Es wird viel gespielt.

Bei den Söhnen erfolgt zumeist ab dem 7. Lj. bez. des Schlafens u. der Erziehung die Trennung von den Müttern/Großmüttern; ab hier werden sie mehr durch die Onkels erzogen. Sie schlafen dann auch im Männerzimmer.

Die psychosexuelle Aufklärung erfolgt i. d. Regel durch etwas ältere Kinder, nicht durch die Eltern.

Besonders bedeutungsvoller Höhepunkt für beide Geschlechter, insbes. aber für Mädchen, ist die Initiation; Mädchen bekommen dann das sog. „Liebeszimmer,“ in dem sie im Prinzip ihre ersten Azhu`s zum Liebesakt empfangen können. In der Regel entwickeln sich erste freundschaftliche Beziehungen ab dem 16. Lj., erste sex. Beziehungen ab dem 17./18. Lj..

Paarbeziehungen

Wenn keine feste Beziehung eingegangen u. dadurch in die Familie des Partners eingezogen wird, leben sowohl Töchter als auch Söhne zeitlebens bei ihren Mutterfamilien.

Vater u. Mutter in unserem Sinn gibt es nur dann, wenn es ein Elternpaar gibt, welches eine feste Form der Partnerschaft (über die später berichtet wird) etabliert hat. Dann hat neben den anderen Erziehungspersonen u. der Mutter auch der Vater eine enge Beziehung zu seinen Kindern u. erzieht diese mit. Hat die Mutter ausschließlich Azhu-Beziehungen, entwickeln sich enge Bindungen der Kinder an die Mutterpersonen Mutter u. Großmutter sowie zu den Onkels u. Kindern, also zu allen Familienmitgliedern.

Ein Resultat der Untersuchung ist, dass die intensivste innere Bindung bei Allen zur Mutter-Familie besteht. Es werden parallel dazu Bindungsaspekte zu einzelnen Familienmitgliedern, z. B. Mutter, Großmutter, Onkel genannt, denen gegenüber stärkere liebevolle Gefühle bestehen oder Dankbarkeit für deren Förderung u. Wertschätzung.

Bez. Macht unterscheiden sich die Mosu auch von anderen Ethnien, da es auch hier eine Vielfalt gibt. Zumeist ist in dieser matriarchalen Ethnie eine Frau die Familienchefin. Sie wird nicht Alters-hierarchisch gewählt sondern nach Tüchtigkeit. Z. B. ist die 24-jährige B. solch eine tüchtige Familienchefin. Es ist auch möglich, dass ein Paar Chef-Funktion sich teilt, z. B. ein Geschwisterpaar.

Alle Familienmitglieder geben den z. B. durch Lohnarbeit erwirtschafteten Verdienst an die Familienchefin ab u. holen sich bei ihr Geld für ihren Bedarf. Die Chefin hat also auch die Verantwortung über den ökonomischen Bereich der Familie. Individuellen Besitz gibt es nicht, nur kleine Geschenke u. Kleidungsstücke.

Alle Probleme, welche einzelne der Familie, Teile von ihr oder sie insgesamt betreffen, werden in z. T. lange dauernden Gesprächen abends solange besprochen, bis es Lösungen gibt. Die Kommunikation ist in vielen Belangen der Problem lösende Weg. Es gibt so gut wie keine Gewalt unter den Mosu. Gemeinschaftswohl bez. Familienwohl hat Vorrang vor individuellem Glück.

Azhu-Beziehung

ist eine sog. Besuchsbeziehung. D. h., dass der Azhu-Partner abends/nachts kommt u. am frühen Morgen wieder zurück in seine „Mutter-Familie“ geht. Es ist eine ausschließliche Liebesbeziehung, wobei ein romantischer Anteil in den Schilderungen auftaucht, mehr noch aber ein sexueller. Der Mann besucht die Frau, anders herum ist es nicht möglich. Es besteht völlige Gleichberechtigung bei der Initiation der Beziehung; beide können sich auf verschiedenen Wegen „anmachen“, u. eine Vereinbarung für die folgende Nacht anbahnen. Gleichberechtigung für beide Geschlechter besteht auch darin, dass beide gleichzeitig mehrere Azhu-Beziehungen haben können, d. h. die Frau in der gleichen Nacht mehrere Männern empfangen / die Männer mehrere Frauen besuchen können. Es besteht keine Verpflichtung, die Existenz einer weiteren Azhu-Beziehung mitzuteilen. Streng genommen besteht die Azhu-Beziehung nur für die letzte Nacht u. nur dann, wenn es Sex gibt. Sie kann aber unterschiedlich lange dauern, von einer Nacht bis mehrere Jahrzehnte; das Letztgenannte ist wohl selten. Die Azhu-Beziehung ist also nicht ein auf Dauer angelegtes Beziehungskonzept. Freude u. Zufriedenheit bezieht sich darauf, eine Vielfalt bez. sexueller Partner/Erfahrungen zu erleben, u. sich dabei sicher zu fühlen. Die Partner leben/wohnen in ihrer Ursprungsfamilie. Beendigung ist ebenfalls gleichberechtigt für beide Geschlechter zu jedem Zeitpunkt möglich. Es ist dann keine Erklärung notwendig. Mag die Frau nicht mehr, sagt sie es oder lässt ihn nicht mehr ins Zimmer. Will er nicht mehr, sagt er dies oder bleibt einfach weg. Die Frau bestimmt, ob es zu einem sexuellen Akt kommt oder nicht. Wenn sie es zugelassen hat, dass der Mann in ihrem Zimmer ist, kommt es auch zum sexuellen Akt. Gewalt gibt es nicht bzw. extrem selten.

Wenn die Azhu-Beziehung zunächst geheim gehalten wird, sprechen die Beteiligten nicht offen über diese. Natürlich weiß jeder im Dorf darüber Bescheid, es ist ein offenes Geheimnis, welches toleriert wird. Mütter greifen bei ihren Töchtern nur dann ein, wenn ihnen bekannt ist, dass der Partner kriminell ist/war, dann zumeist ein Dieb. Selbst wenn der Partner der Tochter ein eigener Partner war, greift die Mutter nicht ein. Als freudiges Moment wird das von Freiheit genannt: "Dein(e) Liebhaber(in) ist auch mein(e) Liebhaber(in)." Dieses Freiheits-Erleben bezieht sich auch auf die Tatsache, dass auch durch fülligste Geschenke keinerlei Anspruch geltend gemacht werden könnte. „Frauen gehören Niemandem.“ Geschenke sind Gefühlsmitteilungen.

Eifersucht gibt es (wenn man den Schilderungen folgt) nicht, denn „Mann u. Frau sind kein Besitz.“ Der Mann, der feststellen muß, dass schon ein anderer bei der begehrten Frau ist, sagt sich: „ist eine Tür verschlossen, öffnet sich Morgen eine neue.“ Treueversprechen sind wohl möglich, stellen aber nach meiner Kenntnis eher eine Ausnahme dar. Es wird gelächelt über Personen, die beide eine einzige, feste Beziehung im Leben eingegangen sind. Männer sagen dann, wenn ein Mann gar keine Beziehung zu einer Frau eingegangen ist (was selten vorkommt), dass Gott ihn dafür bestrafen wird, indem ihm im Himmel sein Penis abgeschnitten werden wird.

Azhu-Beziehungen in höherem Alter sind seltener. Die Frauen sagen von sich ab Ende 50 selbst, dass sie zu alt geworden seien für die Liebe u. die Männer die „Liebesarbeit“ nicht mehr gut verrichten könnten. Die Schilderungen klangen nicht resignativ sondern als angenommene Lebensrealität. Die Älteren haben ja noch viele Aufgaben u. sind anerkannt.

Hier wäre also im Vergleich mit der Entwicklung in unseren Breiten, in welchen in letzter Zeit eine größere Zufriedenheit bez. sexueller partnerschaftlicher Betätigung in fortgeschrittenem Alter konstatiert wird, eine andere Lebenspraxis.

Feste Beziehung

Feste Beziehungen werden gegründet entweder, weil das Paar es so will oder weil ein Mangel besteht. Dieser kann sich darauf beziehen, dass der Bestand der Familie gefährdet ist u. eine Frau benötigt wird oder weil die Versorgung der Familie gefährdet ist, weil es Männermangel gibt. Häufiger habe ich angetroffen, dass ein Mann in die Familie der Frau eingezogen ist (uxorilokal), seltener ist wohl der Einzug der Frau in die Familie des Mannes (virilokal).

Viele Regeln u. Gepflogenheiten, welche für die Azhu-Beziehung gelten, regulieren auch die feste Beziehung. So ist die Partnerwahl genauso frei, d. h. nicht die Familie arrangiert das zukünftige Paar. Trennung ist ebenfalls nach freiem Willen jederzeit möglich; nur bei länger bestehender Beziehung werden Fragen des Verbleibes der Kinder nötigenfalls (nur bei Bedrohung des Fortbestandes der aufnehmenden Familie) besprochen. Allerdings ist zum Eingehen der festen Partnerbeziehung notwendig, dass die Mitglieder beider Familien zustimmen. Die Sexualität mit dem Partner wird als ein Privileg erlebt, wieder nicht als Pflicht.

Ein Leidaspekt bezüglich der Azhu Beziehung wurde von einer Frau folgendermaßen beschrieben: sie erlebt es als schmerzvoll, dass sie ihren leiblichen Vater nicht kennt. Ansonsten wurde Leid in den Azhu Beziehungen personenbezogen geschildert, etwa in dem Sinne, dass der Partner durch zunehmenden Alkoholkonsum unzuverlässig und ausfällig geworden war.

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