- Begriff
Einführung in die Ethnopsychoanalyse
Dr. med Horst Brodbeck, Ratingen
Bei der Entwicklung unseres Konzeptes sind die grundlegenden Arbeiten von Paul Parin, Goldy Parin-Matthéy und Fritz Morgenthaler, die Arbeiten von George Devereux und die neueren von Maja Nadig die Leitpunkte gewesen. Deshalb will ich kurz darauf eingehen.
Der Begriff „Ethnopsychoanalyse“ ist von Georges Devereux (1967) geprägt worden.
Für ihn ist Ethnopsychoanalyse Ethnologie, die sich der psychoanalytischen Methodik bedient, in dem sie eine fremde Kultur mit psychoanalytischen Techniken erforscht. Das bedeutet die Analyse eines emotionalen Prozesses zwischen zwei Gesprächspartnern, in dem die unbewussten Erwartungen, Haltungen, Vorstellungen, Gefühle, Ängste, Wünsche etc. szenisch sich darstellen in einer in der Psychoanalyse so benannten Übertragung der emotionalen Prozesse des einen auf den anderen und der Gegenübertragung des anderen als seine Antwort auf das unbewusste Gesprächsangebot.
D. schreibt: „Jede Kultur behandelt das gleiche psychische Material auf verschiedene Weise. Die eine unterdrückt es, die andere begünstigt seine offene, manchmal sogar übermäßige Ausprägung, wieder eine andere duldet es als zulässige Alternative, sei es für alle, sei es nur für eine bestimmte über- oder unterprivilegierte Gruppe usw.. Die Untersuchung fremder Kulturen zwingt deshalb den Anthropologen oft, bei der Feldforschung Material zu beobachten, das er selbst verdrängt. Diese Erfahrung löst nicht nur Angst aus, sondern wird zugleich als Verführung erlebt.“ (1973)
In seinem Hauptwerk „Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften“ (1973) betont Devereux, dass diese Gefühlsregungen nicht nur Einfluss auf die Begegnung der Menschen zweier unterschiedlicher Kulturen haben, sie färben zudem das Resultat der Untersuchung.
Weil das so ist und weil es nach seiner Auffassung nicht anders sein kann, sondern vielmehr Ausgangspunkt und Grundlage seines Forschungsansatzes ist, plädiert er dafür, dass der Forscher aus den Sozial- und Kulturwissenschaften seine eigenen seelischen Prozesse und den Niederschlag seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen in seinen emotionalen Regungen und Abwehrmöglichkeiten kennen lernt, erforscht und erfahren haben soll. Der Forscher sollte vertraut sein mit seinen Ängsten, mit seinen drängenden Vorstellungen und Erwartungen, die leicht sein Gegenüber beeinflussen und irritieren können. Der Forscher soll für eigene Schwächen, Probleme und Konflikte offen sein, er hat Kenntnis von sich und seiner eigenen Introspektion und seiner typischen Abwehr- und Schutzhaltungen zu erwerben. Es wird so eine Sensibilisierung für die eigenen unbewussten Haltungen erworben, die im Gespräch, im szenischen Verstehen und in für ihn vielleicht typischen Reaktionen als Antwort auf die Probleme und Konflikte des anderen nützlich ist. Der Forscher soll seine subjektiven Empfindungen nicht verdrängen oder unterdrücken, sondern auf diesem Weg seine subjektiven Empfindungen für den ethnopsychoanalytischen Prozess nutzbar machen. Psychoanalytiker erwerben dieses emotionale Erkennen von sich selbst in einer sachkundig durchgeführten Selbsterfahrung, ihrer Lehranalyse.
Neben diesen bemerkenswerten methodischen Erweiterungen hat Devereux wichtige Begriffe, die auch noch heute ihre Gültigkeit haben, geschaffen:
So unterscheidet er zwischen dem ethnischen und idiosynkratischen Unbewussten:
Das ethnische Unbewusste entwickelt sich daraus, dass ein Großteil der Menschen der gleichen Kultur gezwungen ist, die gleichen Triebregungen zu verdrängen; d.h. es dürfen nur solche Phantasien und Triebregungen bewusst gemacht werden, die den Erwartungen der jeweiligen Kultur entsprechen. Jede Generation hat entsprechend den fundamentalen Anforderungen ihrer Kultur bestimmte Regungen verdrängen gelernt und zwingt dann die folgende Generation, das Gleiche zu unterdrücken.
Im Gegensatz zum ethnischen Unbewussten steht das idiosynkratische Unbewusste: Es entwickelt sich aus dem, was das Individuum aufgrund seiner einzigartigen Erlebnisse und Belastungen zu erleiden hatte; d.h. was aufgrund seiner persönlichen Lebensgeschichte verdrängt wurde. Diese „idiosynkratische Störung“ ist eine individuelle, einmalige Antwort des Individuums. Dementsprechend improvisiert das Individuum mit seinen ihm eigenen Abwehrmitteln, um seine individuelle Antwort zu finden.
Diese grundlegenden methodischen Gedanken Devereux’s wurden von allen Ethnopsychoanalytikern der Nachfolgegeneration aufgenommen.
Wichtige ethnopsychoanalytische Forschungen wurden von dem Schweizer Forscherteam Paul Parin, Goldy Parin-Matthéy und Fritz Morgenthaler Anfang der 60er Jahre bei den Dogon und Agni in Afrika durchgeführt. Die Forscher wollten u.a. überprüfen, ob die psychoanalytische Methode, d.h. die spezielle Technik der Gesprächsführung, die ja in einem europäischen Kulturraum entwickelt worden ist, auch in einer gänzlich anderen Kultur angewendet werden kann.. Darüber hinaus wollten sie untersuchen, wie ein Kind in einer anderen Kultur, die sich u.a. durch sehr gegensätzliche Praktiken der Kindererziehung unterschiedet, verschiedene, dann typische Charakterzüge entwickelt.
Die Untersuchung umfasste die Aufzeichnung von Biographien, einfachen Explorationen, teilnehmende Beobachtungen, u.a. die verschiedenen Praktiken der Kindererziehung, Befragungen mit dem Rorschachtest. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand jedoch eine Vielzahl psychoanalytisch orientierter Gespräche mit französisch sprechenden Einheimischen. Dabei beobachteten die Forscher im Besonderen die sich entwickelnde Beziehungsdynamik zwischen Forscher und Forschungsteilnehmer.
In „Die Weißen denken zu viel“ (1963) und in „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst“ (1971) haben sie Ihre Erfahrungen , die sie auf ihren Forschungsreisen in West-Afrika machten, beschrieben und konnten darlegen, dass die psychoanalytische Gesprächsführung auch in einer fremden, nicht europäischen Kultur erfolgreich angewendet werden kann. Darüber hinaus haben sie den Nachweis erbracht, dass durch die Analyse der sich zwischen dem Forscher und Informanten entwickelnden Übertragungs-/ Gegenübertragungsbeziehung Unbewusstes der Kultur erschlossen und verstanden werden kann. Sie sahen den ethnopsychoanalytischen Forschungsprozess als ein ständiges Pendeln zwischen der eigenen und der fremden Kultur.
Die jüngeren ethnopsychoanalytischen Forscher – H. Bosse, M. Erdheim, E. Heinemann, M. Nadig, C. Roth, F. Weiß – , sind alle durch diesen Ansatz beeinflusst worden, auch wenn sie sich kritisch dazu geäußert haben. Ansatz. Auf Maja Nadig, deren methodisches Vorgehen die Entwicklung unserer speziellen Methodik beeinflusst hat, will ich näher eingehen.
1. Das Interview wird von ihr als „selbstreflexibles Gespräch“ bezeichnet. Das selbstreflexible Gespräch ist eine Erfindung von ihr, die sie sich während ihres einsamen Forschungsaufenthalts bei mexikanischen Bauern erarbeitet hat. Täglich notierte sie ihre Erfahrungen mit sich und dem anderen in einem persönlichen intimen Tagebuch und in einem sachlichen beobachtenden Forschungstagebuch. Parallel dazu suchte sie das Gespräch mit ihr vertraut gewordenen Personen in der von ihr untersuchten community. Sie suchte auch regelmäßig eine Supervision bei außen stehenden Beobachtern, die weiter weg vom Geschehen wohnten. Jedes Gesprächsereignis wurde in seinen verschiedenen sachlichen und persönlichen Erfahrungen, Erlebnissen und Erkenntnissen notiert. So ergab sich ein dichtes Netz von inneren und äußeren Beobachtungen über sich, ihre Interaktion mit den anderen, mit sich und der community, es tauchten Erinnerungen aus ihrem eigenen Leben auf, szenische Wiederholungen vergangener Erfahrungen und Situationen. Mit der Zeit und wachsender Erfahrung im Umgang mit diesem procedere ergab sich bei den scheinbar unzusammenhängenden Aspekten ein Sinn, der ihr weiteren Aufschluss gab über das, was sie beobachten konnte.
Nach Möglichkeit sollten viele Gespräche mit verschiedenen Personen geführt werden; nach Möglichkeit mit mehreren Gesprächssequenzen. Dies erlaubte ihr Vergleiche, was kulturspezifisch und was persönlichkeitsbedingt ist.
Die Gespräche werden mit Hand oder mit Tonband aufgezeichnet.
Davon getrennt führte sie ein „Forschungstagebuch“, in dem sie ihre subjektiven Reaktionen wie Stimmungen, Ablehnungen, besondere Anziehungen notiert.
In einem weiteren Buch hielt sie die Daten zu den objektiven Verhältnissen im Dorf fest. Ergänzt wird dies durch Theorien und Daten aus der Literatur.
2. Ein wesentliches Element ihrer Methodik ist die Diskussion der gewonnenen Eindrücke in einer Supervisionsgruppe. Daraus entwickeln sich Thesen, die immer wieder verändert werden können.
Maja Nadig beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, wie mit „Subjektivität“ wissenschaftlich gearbeitet werden kann: dies sei möglich, meint sie, wenn der Forschungsprozess offen dargelegt und die Entstehung der Interpretationen durchsichtig gemacht wird.